Über das "Parallelenaxiom"

Im folgenden möchte ich einiges über das sogenannte Parallelenaxiom berichten, das nicht jeder in dieser Ausführlichkeit kennt.

Bekanntlich geht es auf Euklid (um 300 v. Chr.) zurück, doch erscheint es dort nicht unter diesem Namen.

In seinem berühmten Geometriewerk "Elemente", das bis ins 19. Jahrhundert in vielen Schulen als Lehrbuch verwendet wurde und lange Zeit nach der Bibel am stärksten verbreitet war, beginnt Euklid mit einer Anzahl von Definitionen:

- Ein Punkt ist, was keine Teile hat.
- Eine Linie ist breitenlose Länge.
- Eine Linie ist gerade, wenn sie gegen die in ihr befindlichen Punkte auf einerlei Art gelegen ist. (Andere Übersetzung: eine gerade   Linie ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt.)
- Was nur Länge und Breite hat, ist eine Fläche.
. . . .

Erklärt wird weiter, was ein Winkel ist, insbesondere ein rechter, worauf aber hier nicht eingegangen werden soll.

Es folgen Aussagen, die man sehr viel später1) "Axiome" nannte:

- Dinge, die demselben Dinge gleich sind, sind einander gleich.
- Fügt man Gleichem Gleiches hinzu, so sind die Summen gleich.
- Nimmt man von Gleichem Gleiches weg, so sind die Reste gleich.
- Was zur Deckung miteinander gebracht werden kann, ist einander gleich.
- Das Ganze ist grösser als sein Teil.

1)Axiom von gr. axioma = Ansehen, Würde, unbezweifelter Lehrsatz. In dieser Bedeutung seit dem 17. Jhdt. verwendet – rund 2000 Jahre nach Euklid.

Das, was manchmal als Parallelenaxiom bezeichnet wird, kommt bei den obigen Aussagen nicht vor. Es ist vielmehr das letzte der sich anschließenden fünf Postulate:

1. Es soll gefordert werden, dass sich von jedem Punkte nach jedem Punkte eine gerade Linie ziehen lasse.
2. Ferner, dass sich eine begrenzte Gerade stetig in gerader Linie verlängern lasse.
3. Ferner, dass sich mit jedem Mittelpunkt und Halbmesser ein Kreis beschreiben lasse.
4. Ferner, dass alle rechten Winkel einander gleich seien.
5. Endlich, wenn eine Gerade zwei Geraden trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere Winkel bildet, die zusammen kleiner sind als zwei rechte, so sollen die beiden Geraden, ins unendliche verlängert, schliesslich auf der Seite zusammentreffen, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner sind als zwei rechte.

Hiernach ist es nicht sachgerecht, vom Parallelenaxiom zu sprechen; man sollte lieber Parallelenpostulat sagen.

Während die ersten vier Postulate (lat. für "Forderungen") kurz und knapp gehalten sind, sticht das fünfte in dieser Beziehung deutlich von ihnen ab. Deshalb wurden bereits im Altertum Versuche gemacht, es durch einfacher lautende, gleichwertige Aussagen zu ersetzen. Von Poseidonius (um 135-51 v. Chr.) stammt die Formulierung:

"Alle Punkte der Ebene, die von einer gegebenen Gerade den gleichen Abstand haben und auf einer Seite dieser Gerade liegen, bilden (ebenfalls) eine Gerade."

Dies klingt schon eher nach dem, was wir unter Parallelität verstehen. "Parallel" ist ein im 16. Jhdt. aus den griechischen Wörtern pará=neben und állos=anderer gebildetes Kunstwort, das soviel wie "nebeneinander herlaufend" bedeutet. ("Para" hat auch noch eine Reihe anderer Bedeutungen und kommt in in vielen Fachbegriffen vor, Beisp.: Parabel, Paragraph, Paramagnetismus, Parodie ...)

Eine andere Fassung des fünften Postulats, bei der ich nicht weiß, von wem sie stammt, lautet:

"Zu einer gegebenen Gerade g1 gibt es durch einen Punkt P außerhalb von ihr genau eine Gerade g2, die in der von g1 und P aufgespannten Ebene liegt und g1 nicht schneidet." g2 heißt Parallele zu g1.

Noch ein paar weitere Formulierungen, die dem 5. euklidischen Postulat äquivalent sind
(was natürlich bewiesen werden mußte):

"Zu jedem Dreieck gibt es ein ähnliches Dreieck beliebiger Größe." (John Wallis, 1616-1703)

"Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei Rechte". (Geronimo Saccheri, 1667-1733)

"Durch einen Punkt innerhalb eines Winkels, der kleiner als ein gestreckter ist, kann man stets eine Gerade ziehen, die beide Schenkel schneidet." (Adrien-Marie Legendre, 1752-1833)

"Durch drei nicht auf einer Geraden liegende Punkte gibt es einen Kreis." (Farkas (Wolfgang) Bólyai, 1775-1856).

Die letzte Aussage läßt keinen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Gedanken von Euklid mehr erkennen.

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Das Unbehagen an dem kompliziert klingenden 5. Postulat, das außer den antiken Griechen auch die Araber empfanden, die Euklids Schriften in ihre Sprache übersetzten, dauerte bis in die Neuzeit an. Schon früh wurde gefragt, ob sich nicht das 5. Postulat mit Hilfe der vier anderen beweisen läßt. Falls ja, wäre es entbehrlich, und man könnte es einfach weglassen.

Beweisversuche dieser Art führten zu keinem Erfolg. Noch im 19. Jhdt. quälte sich der zuletzt genannte ungarische Mathematiker Farkas (Wolfgang) Bólyai jahrzehntelang damit herum und schrieb nach dieser langen, frustrierenden Zeit einen Brief an seinen Sohn János Bólyai, ebenfalls Mathematiker, in dem er ihm dringend davon abriet, sich weiter mit diesem Problem zu beschäftigen. (Das in dem Brief enthaltene, lange lateinische Zitat – mit kleinem Schreibfehler – "si paulum ..." bedeutet auf deutsch: "Falls sie" – gemeint ist in diesem Fall die Dichtkunst – "auch nur wenig hinter dem Höchsten zurückbleibt, sinkt sie in die Tiefe hinab" und stammt von Horaz (Ars poetica).)

Bólyai junior folgte nicht dem väterlichen Rat. Er erkannte die Unbeweisbarkeit des 5. Postulats aus den vier übrigen und entwickelte 1825 eine Geometrie, die auf anderen Voraussetzungen beruht. Diese nannte er "absolute Geometrie". (Anm.: "absolut" heißt auf deutsch "losgelöst". Interessanter Weise ist auf dieser Internetseite vom XI. Axiom von Euklid die Rede. Gemeint ist aber das 5. Postulat; offenbar liegt hier eine andere Zählung und ein anderes Verständnis des Begriffs "Axiom" vor.)

Unabhängig von J. Bólyai und voneinander schufen C. F. Gauß (1777-1855) und N. I. Lobatschewskij (1792-1856) in den Jahren 1816 und 1832 die hyperbolische Geometrie, in der das 5. Postulat von Euklid durch das folgende ersetzt wird:

"Ist g eine Gerade und P ein nicht auf ihr liegender Punkt, so gibt es in der durch P, g bestimmten Ebene zwei von P ausgehende Halbgeraden p1, p2, für die der Winkel w(p1, p2) kleiner als ein gestreckter ist, die beide g nicht schneiden, während jede von P innerhalb des Winkels w(p1, p2) ausgehende Halbgerade die Gerade g schneidet." (Quelle: Lexikon der Mathematik, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1979)

Zur Veranschaulichung der hyperbolischen Geometrie dient eine sogenannte Pseudosphäre (gr. für "falsche Kugel"). Sie entsteht durch Rotation einer Traktrix (lat. für "Schleppkurve"), die, für sich interessant, hier auf dem Matheplaneten von Artur Koehler (pendragon302) ausführlich behandelt wurde.

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Zum Schluß ein Blick auf eine richtige, gewöhnliche Kugel. Auch auf ihrer Oberfläche kann man Geometrie betreiben. Wie sieht es bei dieser mit dem 5. Postulat von Euklid aus?

Um das herauszufinden, muß man als erstes feststellen, welche geometrischen Objekte der Kugeloberfläche den Geraden der Ebene entsprechen. Hierzu eignet sich die oben zitierte Geradendefinition Euklids kaum. Ich benutze deshalb eine viel bekanntere, bei der ich nicht weiß, ob sie auch von ihm oder jemand anderem stammt:

"Eine Strecke ist die kürzeste Verbindung zweier Punkte. Entfernen sich diese voneinander bis ins Unendliche, entsteht eine Gerade. Diese hat keinen Anfang und kein Ende."

Auf der Oberfläche einer Kugel liegt die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf einem Großkreis, d. h. einem Kreis, dessen Mittelpunkt der Kugelmittelpunkt ist. Dies kann man sich ohne Rechnung mit einem straffgespannten Gummiband klar machen. Ein ganzer Großkreis (ohne Anfang und Ende) entspricht einer Geraden der Ebene. Da sich Großkreise stets schneiden, gibt es in diesem Sinne auf der Kugeloberfläche keine "Geraden", die zueinander parallel sind. Euklids fünftes Postulat ist hier nicht erfüllbar; die Geometrie auf der Kugel wird deshalb, ebenso wie die hyperbolische, "nicht-euklidisch" genannt.

Hans-Jürgen
(20.7.04)

Nachtrag, 15.11.13:
Dieser Artikel wurde von einem gewissen "Imperatore" in http://de.sci.mathematik.narkive.com/dOHNGEAq/parallelenaxion Wort für Wort ohne Quellenangabe kopiert und als etwas Eigenes ausgegeben. Wenn man mit dem Mauszeiger auf "vor 3 Jahren" geht, wird das Datum dieses Plagiats angezeigt: es war der 29.1.2010.

Re: Über das 'Parallelenaxiom'
von morbus am Di. 20. Juli 2004 19:32:05


Hi Hans-Jürgen,
Vielen Dank für den tollen Artikel! Allerdings habe ich eine kleine Korrektur anzubringen:
Parallele setzt sich nicht aus para und allos, sondern aus para und allelos zusammen. (Wobei das e hier ein eta ist.) allelos bedeutet nämlich "einander". Dann gibts auch etwas mehr Sinn *gg*

mfg
morbus

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