Skepsis hoch zwei

Cornelis de Jager, niederländischer Astrophysiker und Autor der Titelgeschichte des Buches [1], ist ein Skeptiker. Menschen mit dieser Eigenschaft lassen sich von anderen nichts vormachen. Sie verlangen logische Begründungen, fordern Beweise. Fehlen diese, machen sie, die Skeptiker, sich über fremde Behauptungen, Mutmaßungen, Theorien zum Teil sogar lustig, so auch de Jager. In der Einleitung seines amüsant zu lesenden Beitrags nimmt er gewisse Ansichten über die ägyptischen Pyramiden aufs Korn, nach denen die Kreiszahl Pi in den Abmessungen dieser Bauwerke mehrfach auftreten soll, obwohl sie nichts Rundes an sich haben und das Ganze, wie er meint, wohl eher auf Zufall beruht. Der "Pyramidosophie", wie man die betreffenden Spekulationen nennen könnte, setzt er ironisch eine eigene "Radosophie" entgegen, die sich angeblich auf sein ganz gewöhnliches Fahrrad bezieht.

Bedeuten W, P, L und B, so schreibt er, die Durchmesser des Vorderrades, des Pedalwegs, der Lampe und der Klingel, so könne man damit einige wichtige physikalische Konstanten berechnen, denn es gelte:

(1)  P2(LB)1/2         = 1823 (Quotient der Massen von Proton und Elektron)
(2)  P4W-2          = 137,0 (Kehrwert der Feinstrukturkonstante)
(3)  P-5 (L/WB)1/3 = 6,67·10-8 (Gravitationskonstante, im cgs-System gemessen)
(4)  P1/2B1/3L-1   = 1,496 (Entfernung Erde-Sonne, in 100 Millionen km)
(5)  WπP2L1/3B5  = 2,999·105 (Lichtgeschwindigkeit in km/s).

Einen Beweis hierfür bleibt de Jager dem Leser schuldig. Dieser kann die Angaben nicht nachprüfen, denn wie groß W, P, L und B selber sind, wird nicht mitgeteilt.

Allerdings lassen sich diese Abmessungen aus dem Obigen rekonstruieren. Werden beide Seiten der Gleichungen logarithmiert, entsteht ein lineares Gleichungssystem für lg W, lg P, lg L, lg B, das man mit Computerhilfe (z. B. nach dem Gaußschen Algorithmus) leicht lösen kann. Die erhaltenen Zahlenwerte brauchen dann nur noch entlogarithmiert zu werden, und man hat die gesuchten Werte von W bis B.

So geht es wenigstens im Prinzip. Etwas unklar ist die Schreibweise L/WB in (3). Sie kann (L/W)B oder L/(WB) bedeuten. Wahrscheinlicher ist das Zweite. Wir lassen Gl. (3) vorläufig außer Betracht, denn das Gleichungssystem ist ohnehin überbestimmt (fünf Gleichungen für vier Unbekannte), und verwenden nur (1), (2), (4) und (5). Damit erhält man:

W = 555.67979919339188, P = 80.64778543771423,
L = 2.03036613098467,    B = 0.03869271387630.

Die Richtigkeit dieser Lösung kann durch Einsetzen in die Ausgangsgleichungen mit dem Taschenrechner überprüft werden. Dabei zeigt sich, daß (3) nicht erfüllt wird, und zwar in beiden denkbaren Schreibweisen. Mit der zuletzt genannten könnte man das nachträglich in Ordnung bringen, indem auf der linken Seite von (3) der Faktor 500 hinzugefügt wird; dann würden sich beide Seiten um weniger als 0,1 Prozent voneinander unterscheiden.

Abgesehen vom Grundsätzlichen (daß es keinen Beweis für die de Jagerschen Behauptung gibt) und dieser numerischen Unzulänglichkeit, sind auch die erhaltenen Ergebnisse wenig befriedigend. Berücksichtigt man, daß sich die Maßzahlen für die vier Fahrradgrößen nicht auf mm, cm oder irgendeine andere gebräuchliche Einheit beziehen, sondern auf das "Heilige Fahrrad-Inch", das 17 mm beträgt, erhält man gerundet die folgenden Abmessungen:

Vorderrad: 9446,6 mm,  Pedalweg: 1371 mm,  Lampe: 34,5 mm,  Klingel: 0,65 mm.

Allein die Lampe hat eine halbwegs vernünftige Größe. Das Vorderrad mit fast neuneinhalb Metern Durchmesser ist viel zu groß. Das angenommene Fahrrad ist keins, weder ein normales noch ein "paranormales", und ähnelt mehr einem Riesenrad. An der nadeldünnen Klingel kann man sich eher stechen als mit ihr Passanten warnen.

Mit meinem eigenen Fahrrad funktioniert die Sache besser. Seine Daten sind:

Vorderraddurchmesser (W)  63 cm = 37.0588235294118 HFI
Pedalwegdurchmesser (P)   32 cm = 18.8235294117647 HFI
Lampendurchmesser (L)    5,5 cm =  3.2352941176471 HFI
Klingeldurchmesser (B)     4,5 cm =  2.6470588235294 HFI ,

und es gilt das folgende Gleichungssystem:

P4L-1B = 1823
W-1/2P1/2L1/3B5 = 137,0
W-3P-1L-4B2 = 6,67·10-8
W1/2PL5B2 = 1,496
W4P1/2L1/2B-4 = 299792.

(Die Ergebnisse auf der rechten Seite bis auf das letzte sind auf vier geltende Ziffern gerundet, wie man wiederum mit dem Taschenrechner bestätigen kann. Der angegebene Wert für die Lichtgeschwindigkeit findet sich in Physikbüchern.) Dieses gegenüber dem obigen brauchbarere Beispiel bestätigt die spöttische Grundidee des niederländischen Autors, und natürlich gibt es weitere in dieser Art.

De Jager weist darauf hin, daß für dasselbe Fahrrad mehrere Lösungen und damit Gleichungssysteme existieren können, aus denen sich dann "die besten" heraussuchen lassen, was immer das bedeuten mag. Nicht einverstanden bin ich mit seiner Aussage: "Ein größerer Rechner als meiner, der auf mehr Variablen und Formeln zurückgreifen kann, würde noch weit bessere Ergebnisse ausspucken." Hier wird m. E. die Funktion eines Computers falsch beschrieben und dieser selbst fast ein wenig mystifiziert. Die Größe eines Computers bestimmt nicht die Anzahl der Variablen oder "Formeln", die er verarbeiten kann, sondern lediglich seinen Speicherumfang und seine Schnelligkeit. Für die hier vorliegende Aufgabenstellung, selbst wenn sie noch um einiges erweitert wird, reicht beides vollkommen aus.

Insgesamt zeigt das Vorstehende, daß es durchaus sinnvoll sein kann, auch einem Skeptiker skeptisch gegenüberzutreten, was die Überschrift scherzhaft zum Ausdruck bringen soll.

[1] Gero von Randow (Hg.): Mein paranormales Fahrrad..., rororo, Hamburg 1993, 1940-ISBN 3 499 19535 6

Nachtrag:
Wie mir erst jetzt, Monate nach der Erstellung dieser Webseite, bekannt wird, schrieb Herr Professor de Jager bereits im Dezember 1990 in der niederländischen Zeitschrift "Skepter" den Artikel "Velosofie: Rekenen aan de Grote Piramide en m'n fiets",1) der im deutschen und englischen Sprachraum offenbar weitgehend unbeachtet blieb und auch in dem Buch von Herrn von Randow nicht erwähnt wird. An ihm ist nichts auszusetzen, was das "paranormale Fahrrad" betrifft: dessen Abmessungen werden angegeben, so daß der Leser die aufgestellten Gleichungen selber nachprüfen kann, und diese sind auch in Ordnung. Die oben erwähnte Stelle: "Ein größerer Rechner..." kommt in der ursprünglichen Arbeit nicht vor. Meine Kritik bezieht sich deshalb nur auf den deutschsprachigen Artikel in dem rororo-Band [1]. Er enthält in Gl. (5) eine gegenüber dem "Skepter"-Artikel veränderte Potenz (105 statt 1010), wodurch die unsinnigen, von mir rekonstruierten "Fahrrad"-Abmessungen zustandekommen. Der zum Widerspruch herausfordernde, fehlerhafte Artikel in [1] existiert seit einem knappen Jahrzehnt. Ein kritisches Echo, speziell bei den Anhängern der deutschen "Skeptiker"-Bewegung, scheint er nicht gefunden zu haben.
H.-J. Caspar, 15.11.02
1)vgl. https://skepsis.nl/velosofie/.

Erst viel später erfuhr ich auf der Homepage des skeptischen Philosophen Peter Möller, dass G.v.R. während der deutschen Spaltung ein westdeutscher kommunistischer Funktionär war, der nicht-linientreue Genossen unter Druck setzte. (http://www.philolex.de/memoiren.htm#memobruc in der Nähe von Fußn. [56])

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