1999 veröffentlichte ich im "Literaturcafé" des Internet unter dem Tarnnamen
"Arno Niemus" (leichte Abwandlung von "Anonymus") das Folgende:

Kryptisch-kritisch

Auf der internationalen, weltweit ausgestrahlten Pressekonferenz versuchte das dem Raumschiff entstiegene »grüne Männchen«, das in Wirklichkeit golden schimmerte und einer Pyramide ähnelte, sich auch auf Deutsch verständlich zu machen; doch lief dabei irgendetwas gründlich schief. Seine ersten Worte lauteten: »hvrw tvtifvhhg nvmhxsvm dri plnnvm rm uirvwvm af vfxs …«

Die Direktübertagung wurde unterbrochen, die Rede aber weiter aufgezeichnet, und Kryptologen stürzten sich auf sie. Dabei gingen sie von der Annahme aus, dass das erhaltene Durcheinander nicht Absicht war, sondern auf einer einfachen, systematischen Störung im Übersetzungscomputer des außerirdischen Besuchers beruhte. Sie ermittelten die beiden häufigsten Buchstaben - im Deutschen sind das bekanntlich E und N - und hielten es außerdem für möglich, dass in den obigen Begrüßungsworten auch das Wort »Menschen« vorkommt. Mit beidem hatten sie recht, und so wurde die Entschlüsselung der gesamten Rede für sie fast zum Kinderspiel. Diese konnte noch während der Pressekonferenz in die Bildschirme der deutschen Fernsehteilnehmer eingeblendet werden und ging, mehr durch Aufrichtigkeit als durch Höflichkeit gekennzeichnet, wie folgt weiter:

»… Wir beobachten euch schon seit langem, kennen einen großen Teil eurer Geschichte. Eure technische Entwicklung ist beeindruckend - wir waren schon vor Jahrhunderten so weit -, doch seid ihr zum Beispiel machtlos gegenüber Erdbeben, Flutwellen und Überschwemmungen. Die Erzeugung und Verteilung von Nahrungsmitteln ist unzureichend - viele Bewohner eures Planeten verhungern. Die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt liegen noch sehr im argen. In zahlreichen Ländern herrschen Korruption und Machtmissbrauch. Die Stellung der Frau ist in ihnen oftmals beklagenswert. Wer sich gegen herrschende Mißstände auflehnt, wird nicht selten isoliert, eingesperrt oder umgebracht. Die an sich verbotene Folter besteht weiter, ebenso die Sklaverei. Viele Menschen können weder lesen noch schreiben. In den hoch entwickelten Ländern, wo dies doch der Fall ist, ist die freiwillige Einnahme von Giftstoffen, die Körper und Geist ruinieren, verbreitet. Euer Fernsehen zeigt Verbrechen zur Unterhaltung, und im Theater erscheint der Mensch oft als widerliches Zerrbild. Auch hat die Bühnensprache sehr an Niveau verloren. Wörter aus dem Verdauungs- und Sexualbereich sind in ihr nicht mehr ungewöhnlich. Moderne Lyrik, vielfach ohne erkennbaren Sinn, wird unter anderem von Selbstmitleid und Überdruss bestimmt. Als Massenware wirkt sie monoton und gleichförmig. Die Schönheit der Natur, die Freuden und Leiden der Liebe - einst Hauptthemen der Dichter - werden kaum noch beachtet, ebenso wenig Geist und Seele des Menschen und seine Stellung in der Welt. Politik spielt keine Rolle. Gedichte über das Ideal der Freiheit, gegen Unterdrückung und Spaltung, gegen den Krieg: wo gibt es sie? Die alte Reimkunst, den meisten zu schwierig und mühevoll, wurde in Verruf gebracht. "Verse" sind häufig nicht mehr als in willkürliche Stücke zerhackte Prosa …«

Ein Spiegelbild aus der Sicht des »grünen Männchens«. Mag sein, dass es sich in Einzelheiten irrte oder übertrieb. Positives blieb unberührt; vielleicht folgte es im hier nicht wiedergegebenen Rest der Rede. Abschließend kann man noch fragen: Worin bestand eigentlich der systematische Fehler, der sie anfangs so verwirrend erscheinen ließ? Und wie lautete ihr erster Satz im Klartext?

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