Über Personalisierung

Auf dieser Seite geht es um eine sprachlich-gedankliche Erscheinung, die sich oft, sowohl in den Religionen wie im täglichen, nichtreligiösen Leben, beobachten lässt.

Es handelt sich bei ihr um die Personalisierung von Mächten, natürlichen und übernatürlichen Vorgängen, von Denkfiguren und Institutionen. Sie kommt in der Literatur und bildenden Kunst, in den Wissenschaften und der Alltagssprache vor. Dabei findet ein sogenannter "Anthropomorphismus" statt; dieses Fremdwort bedeutet, dass etwas, das kein Mensch ist, gedanklich mit menschlichen Eigenschaften in Verbindung gebracht wird. ("Anthropomorph" heißt, wörtlich übersetzt, "menschenförmig".)

Ich beginne mit Gott. Die an ihn glauben, darunter auch ich, denken: Er hat alles geschaffen, was ist und war, wirkt schöpferisch in die Zukunft und hat, selber ungeschaffen, keinen Anfang und kein Ende. Diese Eigenschaften sind für uns nur schwer vorstellbar. Um die unüberbrückbar große Distanz zu ihm ein wenig zu verringern, wird Gott an vielen Stellen der Bibel und in Predigten zusätzlich unter anderem so beschrieben: Er liebt die Menschen, die sich als seine "Kinder" betrachten können, und er erwartet von ihnen, dass sie ihn lieben. Er kann zornig werden, wenn sie das nicht tun, auch eifersüchtig, und sich rächen, dann aber wiederum auch nachsichtig, großmütig und milde sein - lauter Eigenschaften, die wir auch beim Menschen finden. Wie vieles in der Bibel halte ich auch das für eine symbolisch-metaphorische Ausdrucksweise.

Gott selbst ist unsichtbar; wir können ihn nur unvollkommen an seinen Werken erkennen. Unsichtbar ist auch Sein Geist, der auch - nicht allzu oft in der Bibel - der Heilige Geist genannt wird.* Er wurde von Jesus dessen Jüngern als Tröster und Ratgeber für die Zeit nach dem Tod des Heilands angekündigt. Durch diese beiden Eigenschaften gewinnt auch der Heilige Geist etwas an anschaulicher, menschlich begreifbarer Statur. Nicht anthropomorph erscheint er in der Schrift wie auf Gemälden symbolisch als Feuer, fließendes Wasser und als Taube.
* z. B. in Röm.15,13.

Im Gegensatz zu ihm wird der Satan - ebenfalls eine unsichtbare geistige, allerdings zerstörerische Macht, in der die schlechten Veranlagungen und Verhaltensweisen der Menschen gebündelt sind - sehr oft in menschlicher Gestalt wiedergegeben. Er redet in der Wüste vergeblich auf Jesus ein und erscheint in früher populär gewesenen Bildern und Erzählungen als Hörner tragender, nach Schwefel riechender, abstoßend aussehender Hinkefuß. Der Satan kann sich aber auch - nach nichtbiblischem Volksglauben - tarnen, sieht dann ganz normal und passabel aus und kann sogar die Gestalt einer hübschen Frau annehmen.

Unsere "heidnischen" germanischen Vorfahren personalisierten das für den Menschen nicht voraussehbare Schicksal in den Nornen (Wikipedia), und die antiken Griechen glaubten an Rachegöttinnen, die Erinnyen, als das personifizierte schlechte Gewissen. Diese verfolgten Übeltäter und quälten sie.

Bis in die griechisch-römische Antike zurück reichen die weiblichen Figuren der Fortuna (Glücksgöttin, oft mit einem Füllhorn dargestellt), der Victoria (Siegesgöttin) und der Justitia, die bei juristischen Auseinandersetzungen die Gerechtigkeit verkörpern sollte. Noch heute ist sie gelegentlich an und in Gerichtsgebäuden mit Schwert und Waage zu sehen; ihre Augen sind verbunden.

Zwei andere, aus dem Mittelalter stammende Frauenfiguren sind die Ekklesia und die Synagoge als Versinnbildlichungen der Kirche und der jüdischen Religion. Das Synagogenbild trägt zum Zeichen, dass die christliche Kirche über den jüdischen Glauben in vielen Ländern den Sieg davon trug und dieser gegenüber der christlichen Heilsbotschaft "blind" blieb, wie die Justitia eine Augenbinde. Mehr dazu hier (Wikipedia). (Anm.: Ein Bild der Synagogen-Figur ist auch auf dieser Wikipedia-Seite zu sehen. Sie informiert ausführlich über das wechselnde Verhältnis christlicher Kirchen zu den Juden bei der Karfreitags-Fürbitte.)

Im Mittelalter und längere Zeit danach stellte sich man den Tod als "Schnitter" und "Sensenmann" vor. Bisweilen war auch vom "Gevatter" Tod die Rede, besonders dann, wenn bei schweren, unheilbaren Krankheiten das Lebensende herbeigesehnt wurde.

Nicht immer werden Personifizierungen bildlich dargestellt; oft geschieht dies nur in Worten und mit Namen. So gibt es die Weisheit, die "spricht", und der in der Bibel ein ganzes Buch gewidmet ist, sowie die Frau Musica und die Frau Welt; die beiden letzten sind nicht biblisch.

Die Erde, meinen manche, ist "zornig" und "wehrt" sich, und die Sonne, so las ich, "will" auch nicht mehr so strahlen wie früher, um uns durch Abkühlung zu "strafen".

Mit Kälte hat Väterchen Frost zu tun. So bezeichnen die Russen scherzhaft den Winter.

Böse auf uns wie ein Mensch sei auch die Natur, glauben viele, und dass sie sich "rächen" wird. - Auf einer Internetseite las ich die Frage: "Denkt die Natur symmetrisch?" (Kursive Hervorhebung von mir.)

Menschliche Züge zeigt in manchen Reden und Überlegungen auch die Evolution. Sie "geht" nicht zielbewusst vor, heißt es, sondern "handelt" zufällig. Sie "plant" nicht, trifft keine Entscheidungen, aber sie "experimentiert". Letzteres findet man vielfach erwähnt im Internet. Dort wird auch die Frage gestellt, warum die Evolution den Kuss "erfand".

"Die Revolution frisst ihre Kinder" ist ein anthropomorphes, geflügeltes Wort.

"Der Wind hat mir ein Lied erzählt" sang einst Zarah Leander; der neue Morgen "begrüßt" uns, die Ferne "lockt", die Pflicht "ruft", die Politik "verlangt" . . .

Mehr Beispiele lassen sich leicht angeben, doch die meisten Menschen reden nicht so. Wer sagt schon: "die Sonne lacht?" - das sind nur wenige. Fast immer sagen wir: "die Sonne scheint", was sie in Wirklichkeit ja tut. Das heißt, im Alltag, in nicht gehobener Sprache, verzichten wir auch oft auf Personalisierungen.

Anders ist es beim Glauben. Dass Gott bestimmte menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden, geschieht täglich und millionenfach in aller Welt, jedenfalls bei den Christen. Zu den oben genannten treten weitere hinzu, die ebenfalls in der Heiligen Schrift stehen.

Nicht erlaubt ist uns, wesentlich darüber hinauszugehen und Gott nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu trivialisieren. "Vater" dürfen wir zu ihm sagen, aber nicht "Daddy" oder "Pappi", wie manche Pastoren meinen. Und erst recht darf man Ihn nicht "Kumpel" nennen, was ebenfalls vorkommt. Der Gedanke, man könne sich mit Gott auf eine Stufe stellen, ist absurd.

Die christliche Theologie spricht von einem "personalen" Gott. Was damit gemeint ist, wird durch das Vorstehende nur knapp umrissen. Nicht vergessen soll man dabei: Er ist der Herr, der Allmächtige, der Heilige. Ehrfurcht und Respekt Ihm gegenüber gehören in jeden Gottesdienst und jedes private Gebet.

Nachtrag zur Natur, bei der die Personalisierung besonders reichhaltig ausfällt.
Wie bei einem lebendigen, denk- und entscheidungsfähigen Wesen wurde/wird von ihr gesagt: sie lässt sich nicht täuschen/überlisten, weiß es besser/am besten. In einer Diskussion über hypothetische "Multiversen" schrieb jemand: "... wenn die Natur das so beschlossen hätte ...". Sie macht, so liest und hört man, was sie will, macht nichts vergeblich, macht (keine) Fehler/Sprünge, kennt keine rechten Winkel, spricht mathematisch, fürchtet die Leere. Die Natur greift an, schlägt zurück. Oder sie meint es gut mit uns, mit einer bestimmten Gegend und den dortigen landwirtschaftlichen Produkten wie Wein und Obst. Die Natur ist erfinderisch, erfolgreich, gewinnt, vergisst nichts. Sie "versucht den Zustand geringster Energie einzunehmen." (Begründung für Kondensatorentladung.) Sie ist glücklich, freigiebig, verschwenderisch, wird "Mutter" Natur genannt.
Noch dazu dieses Cicero-Zitat: "recta enim et convenientia et constantia natura desiderat aspernaturque contraria." "Denn die Natur will nur das Gute, das Schöne und das Wahre, und verwirft das Gegenteil." Cic.off.2,35

Ich finde es erstaunlich, wie Vieles sich in diesem Zusammenhang aus animistischen1 Religionen, antiker Philosophie und gewöhnlichem Aberglauben in unserer Zeit und Kultur erhalten hat.     
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s. z. B. Wikipedia.

Dankbar bin ich für das, was die katholische Übersetzerin, Dichterin und Buchautorin Claudia Sperlich hier über die Natur schreibt. Der in dem Blog erwähnte Friedrich von Spee (1591 bis 1635) war Jesuit und Gegner der damals grassierenden "Hexen"verfolgung und -prozesse.

Übrigens wird auch der Zufall personalisiert und als etwas selbständig Handelndes angesprochen. Er "regiert" und ist dabei "blind". Man sagt: "Der Zufall wollte es so" und "Alles wurde genau geplant, nichts dem Zufall überlassen". In einer längeren Abhandlung mit dem Titel "Die Natur würfelt: ..." las ich: "Aus mehreren Alternativen wählt der Zufall eine aus."

Noch ein Nachtrag
Sehr klar und so, wie ich es selbst noch nicht dachte: Klaus Straßburg "Gott - eine Person anderer Art"

Und dazu hier noch: Gott als Person oder "Kraft"?    Dasselbe hier ohne Werbung.

Nicht auf der "Glaubensseite": Meine Seele ...

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