Auszug aus https://web.archive.org/web/~www.bautz.de/bbkl/h/heydorn~.shtml" und mit Absätzen versehen: Wilhelm Heydorn: 100 Thesen

A. Grundlagen der religiösen Erkenntnis:

a. Die falschen Grundlagen:

1. Die Bibel - denn sie ist Menschenwerk und enthält Wahres und Irrtümliches durcheinander.

2. Die sog[enannten] Offenbarungen, mittels derer Gott persönlich oder indirekt Enthüllungen über sein Wesen, seine Pläne oder über die Zukunft gemacht haben soll - derartige Offenbarungen haben sich sämtlich als Menschenmeinung erwiesen.

3. Der überlieferte Glaube - denn unsere Vorfahren und ihre Gewährsleute (ob Papst ob Luther ob Jesus) können sich geirrt haben; das Prinzip der Entwicklung darf hinsichtlich des Glaubens nicht einfach ausgeschaltet werden.

4. Die Wissenschaft, sofern sie bestimmte [will heißen: absolute] Aussagen macht über Dinge und Vorgänge, die weder rein formal sind noch innerhalb des sinnlich Gegebenen liegen - denn dann ist sie zur Afterwissenschaft geworden.

5. Der menschliche Verstand alleine - er führt bei Nichtbeachtung der Gefühlswerte zu schiefen Ansichten.

6. Das menschliche Gefühl alleine - es hat ohne das Korrektivum der Vernunft keinen sicheren Boden.

b. Die richtigen Grundlagen:

7. Ein unverbildeter, einfacher Verstand und ein aufgeschlossenes, empfängliches Herz.

8. Die Geschichte, speziell die Religionsgeschichte und die Natur –

9. mit anderen Worten: das Sein und Geschehen, soweit es überblickbar ist.

10. Der Inhalt des menschlichen Gefühls hinsichtlich der Religion.

11. Die Wissenschaft als Hilfe und als Schutz vor Verirrungen, insofern sie Forschungsresultate darreicht und vor naiver Heiligsprechung persönlicher Meinungen und Empfindungen behütet.

B. Unser Glaube:

I. Gott.

a. Falsch ist,

12. daß Gott im Sinne des natürlichen Erkennens erkennbar ist,

13. daß Gott jemals gesehen ist oder gesprochen hat,

14. daß Gott als ein Personwesen nach Analogie des Menschen vorgestellt wird,

15. daß ihm in diesem sinnlichen Zusammenhange die Weltschöpfung sowie die Leitung des gesamten Naturgeschehens und die Möglichkeit des Wundertuns (z[um] B[eispiel] daß ein Stein nach oben fällt) zugeschrieben wird,

16. daß Regungen menschlicher Art (Zorn, Trauer, Liebe) in ihn hineingelegt werden,

17. daß man von einem Willen Gottes im eigentlichen Sinne spricht,

18. daß man spezialisierte Angaben über die Pläne Gottes macht.

b. Richtig ist,

19. daß der Gottesglaube bewußt oder unbewußt in jedem Menschen steckt,

20. daß dieser Gottesglaube sich kundgibt in der bewußten oder unbewußten Beugung vor etwas Geheimnisvollem, Gewaltigem in der Welt,

21. daß Herz und Verstand in klarem Zustande sich diesem Geheimnisvollen entgegenstrecken, weil sie es als den heiligen Geist schlechthin, als das Höchste und Edelste empfinden,

22. daß Gott nicht nur als etwas lediglich Daseiendes, sondern auch als etwas Aktives empfunden.

II. Jesus.

a. Falsch ist,

23. daß übernatürliche Weissagungen seit alters auf Jesus hingewiesen haben,

24. daß Jesus eine Figur der Sage ist,

25. daß Jesus auf übernatürliche Weise geboren ist,

26. daß Jesus Gott ist,

27. daß Jesus Gottes Sohn in einem übernatürlichen Sinne ist,

28. daß Jesus übernatürliche Kräfte des Geistes und Körpers gehabt und Wunder d[as] h[eißt] Veränderungen des gesetzmäßigen Naturverlaufs bewirkt hat,

29. daß sein Tod und sein Blut abgesehen von der geschichtlichen und in manchen Fällen psychischen Wirkung eine besondere Heilsbedeutung haben,

30. daß er vom Tode auferstanden ist,

31. daß Worte wie »er ist erhöht« oder »er lebt« oder »er ist dein Heiland und Richter« eine sinnliche Wirklichkeit ausdrücken,

32. daß Jesus überhaupt in irgend einem Punkte nicht Mensch gewesen ist,

33. daß sein Leben und Lehren wörtlich nachgeahmt bzw. erfüllt wird,

34. daß seine Lehre etwas Übernatürliches, außer Zusammenhang mit dem übrigen Geistesleben Stehendes ist,

35. daß seine Lehre für alle Zeiten unbesehen als das Höchste gelten muß,

36. daß seine Lehre in sich geschlossen ist und nicht der Ergänzung bedarf,

37. daß der Kultus seiner Person für das Christsein notwendig ist.

b. Richtig ist,

38. daß der Israelit Jesus wirklich gelebt hat und zwar in Judäa zur Zeit der Kaiser Augustus und Tiberius,

39. daß er ungefähr im Jahre 30 als Volksaufwiegler in Jerusalem durch Kreuzigung hingerichtet worden ist,

40. daß er die letzten Jahre seines Lebens lehrend umhergewandert ist,

41. daß seine Persönlichkeit einen unauslöschlichen Eindruck auf diejenigen gemacht hat, die ein Organ für ihn hatten,

42. daß dieser Eindruck hervorgerufen wurde durch die Hoheit seines Wesens, als deren Hauptzüge einzigartige Unabhängigkeit, Klarheit, Reinheit und Güte erscheinen,

43. daß die in Jesu Fleisch gewordene Auffassung des Menschentums bis heute keine Aussicht hat, überboten werden zu können,

44. daß das Menschentum nach ihm besteht in der unzerreißlichen, engsten Verbindung jeder Menschenseele mit Gott,

45. in der daraus erwachsenen Höchststellung der innerlichen Werte und prinzipiellen Gleichstellung aller Menschen,

46. in der dadurch bewirkten Freiheit der Seele, die nun keinen anderen Herrn und keinen anderen Wertsetzer mehr kennt als Gott alleine,

47. in der aus der Herrschaft Gottes abfolgenden Verpflichtung zum vollen Gebrauche der gesund zu erhaltenden Kräfte des Geistes und Körpers,

48. in dem ebenfalls aus der Herrschaft Gottes entfließenden Bewußtsein, daß der Wert des Kräftegebrauchs und der Kräfteerhaltung bestimmt wird durch den Grad der in ihnen obwaltenden inneren Reinheit,

49. in der stets erneuten Gewinnung der Reinheitsnormen aus dem Verhältnis zu Gott heraus,

50. in der Füllung des Herzens mit an Gott entzündeter, überwindender Güte,

51. daß diese Auffassung, also das wahre Christentum, soweit man zu blicken vermag, einzig und alleine Frieden und Wohlfahrt in der Menschheit verbreiten kann,

52. daß diese Auffassung nur mit Mühe aus der zeitlich bedingten Ausdrucks- und Vorstellungsweise Jesu sowie aus der verwischenden Überarbeitung der vergangenen Jahrhunderte herausgeschält werden kann,

53. daß die rechte Orientierung immer nur an dem Original, an Jesus selbst, in Verbindung mit der Benutzung der übrigen Grundlagen für die religiöse Erkenntnis möglich ist,

54. daß aber die Person Jesu selbst nicht konstitutiv für das persönliche Christsein oder besser Christbleiben des Einzelnen ist.

III. Der Mensch.

a. Falsch ist,

55. was die Bibel über die Entstehung der Menschen und über die ersten Vorgänge unter Menschen berichtet,

56. daß die Menschen ursprünglich volle Gotteserkenntnis gehabt, sie aber allmählich durch eigene Schuld verloren haben,

57. daß die Menschen ursprünglich sündlos gewesen und durch den Fall der Stammeltern erst mit Fluch beladen sind,

58. daß Sünde und Tod nicht von Anfang an dagewesen sind,

59. daß es einer besonderen Erlösungstat bedurfte, um die Menschheit von der Macht der Sünde zu befreien,

60. daß die Macht der Sünde außerhalb des einzelnen Menschen und doch für ihn wirksam gebrochen ist,

61. daß der Mensch nicht ohne besonderen Mittler oder Heiland zu Gott gelangen und Edelmensch sein kann,

62. daß über die Fortdauer der Einzelseele nach dem Tode unwissbare Behauptungen in Umlauf gesetzt werden.

b. Richtig ist,

63. daß über die Entstehung der Menschen noch nichts Gewisses ausgesagt werden kann,

64. daß eine Entwicklung von barbarischen (halbtierischen, kindischen) zu Kultur-Zuständen hin stattgefunden hat,

65. daß einige Hauptetappen in der aufsteigenden religiösen Linie durch die Namen Elia, Jeremia, Plato, Jesus markiert sind,

66. daß in jedem Menschen ursprünglich das Untermenschliche (Ungute, Selbstsüchtige, Triebhafte) die Oberhand hat,

67. daß in jedem Menschen zugleich die Anlage auf das Gute (Gott) hin gegeben ist,

68. daß erst, wenn es im Innern des Menschen zum entschiedenen und bewußten Bruch mit dem Alten, Untermenschlichen gekommen ist (Bekehrung), der Vollmensch sich entfalten kann,

69. daß die Entwicklung zu diesem Bruche und die Entfaltung nach demselben ein Zusammenwirken von Gott und Mensch voraussetzt,

70. daß mit dem Hineinarbeiten des Menschen in die Sphäre des Guten Hand in Hand geht das innere Freiwerden und das Erfülltwerden mit einer überirdischen Seeligkeit,

71. daß der Mensch, der in Gott lebt, der jeden Gedanken, jedes Wort, jede Handlung unmittelbar vor Gott zur Verantwortung bringt und so das wahre Menschentum Jesu lebt, das Höchste und Schönste erreicht hat, was Menschen erreichen können und sollen,

72. daß alle Gedanken an das, was nach dem Tode sein wird, als höchst überflüssig bei Seite gestellt werden, da die Menschen es nur mit dem Leben auf der Erde zu tun haben und mit Freude und Dankbarkeit die Augen schließen können, wenn ihr Leben ein Leben in Gott war.

IV. Sakramente.

a. Falsch ist,

73. die Definition, wonach ein Sakrament eine heilige, von Christus selbst eingesetzte Handlung ist, in welcher unter irdischen Zeichen himmlische (übernatürliche) Gnadengüter zuteil werden,

74. die Meinung, daß Menschen oder Dinge überhaupt etwas Übernatürliches wirken könnten,

75. vor allem, daß die Taufe für den Säugling ein Sakrament ist.

b. Richtig ist,

76. daß man entweder gar keine oder unzählige Sakramente anerkennen muß - letzteres dann, wenn man jeden Vorgang, durch den eine Annäherung an Gott oder Vertiefung in Gott hervorgerufen wird, als Sakrament empfindet.

C. Konsequenzen für verschiedene Einrichtungen.

I. Der Kultus.

a. Falsch ist,

77. daß Kulthandlungen (Gottesdienst, Abendmahl, Taufe, Konfirmation, Trauung, kirchliche Beerdigung) unbedingt zur Christlichkeit gehören,

78. daß ein Christ, der sie verschmäht, nicht Christ sein und bleiben kann.

b. Richtig ist,

79. daß die Glieder einer Familie oder einer Gemeinde in der Regel das zeitweilige gemeinsame Denken an Gott (zumal bei besonderen Anlässen) als eine Erhebung und Anregung empfinden, die der Einzelne nicht immer so erleben kann,

80. daß die Anlässe und Formen der Kulthandlungen, wenn anders diese wirksam sein sollen, immer erneut der fortschreitenden Kultur angepaßt werden müssen.

II. Das Priestertum.

a. Falsch ist,

81. daß die Verwaltung der Gotteserkenntnis und Gottesverehrung einem bestimmten Stande übergeben ist oder wird, daß also Mittler zwischen Gott und Mensch nötig sind,

82. daß die Glieder dieses Standes dann vielleicht noch mit besonderen Ansprüchen auf Würde und Hochachtung auftreten,

83. daß über die Befähigung zum Lehren des rechten Gottesdienstes lediglich ein vorgeschriebener, durchmessener Bildungsgang, nicht aber neben der geeigneten Bildung vor allem das Maß des persönlichen Christseins entscheidet,

84. daß diese Lehrer sich als Herren über die Seelen gebärden.

b. Richtig ist,

85. daß es zur Einführung zumal der Kinder und jüngeren Leute in das Verständnis und Wollen des wahren Menschentums sowie zur Erhaltung darin geeigneter Persönlichkeiten bedarf,

86. daß das Arbeiten dieser Persönlichkeiten von dem Streben geleitet ist, sich überflüssig zu machen,

87. daß im übrigen jeder Mensch das Recht und auch die Pflicht hat, sein eigener Priester zu sein, d[as] h[eißt] mit Eifer und Ernst seine Aufgaben zu suchen und zu erfüllen.

III. Die Kirche.

a. Falsch ist,

88. daß es verschiedene Kirchen gibt und daß innerhalb eines Volkes und einer Kirche noch kirchliche Absonderungen stattfinden,

89. daß eine Kirche bureaukratisch organisiert ist,

90. das Streben nach kirchlicher und religiöser Uniformität,

91. daß Unterschiede zwischen anerkannten und nicht anerkannten Religionsgemeinschaften gemacht werden,

92. daß die einen vom Staate unterstützt, die anderen von ihm befehdet werden,

93. daß hineinregiert wird in das, was des Menschen innerste Angelegenheit ist.

b. Richtig ist,

94. daß die Religion eine Menschheitssache ist und daß die Menschheitsverbände (Volk, Stamm, Ortschaft, Familie) die natürlichen Gemeinschaften für die Pflege des Religiösen bilden,

95. daß diese grundlegende Pflege die wichtigste Aufgabe für die genannten Gemeinschaften ist,

96. daß den lokalen Bedürfnissen und Besonderheiten der weiteste Spielraum gelassen wird.

IV. Die Schule.

a. Falsch ist,

97. daß die Konfessionen irgend etwas mit der Schule zu tun haben.

b. Richtig ist,

98. daß der Schulunterricht wie überhaupt jede Handlung religiös durchtränkt sein muß,

99. daß diese Durchtränkung sich weniger durch Worte und besondere Religionsstunden als durch die Persönlichkeit des Lehrers kundgibt und mitteilt,

100. daß grundlegende religionsgeschichtliche Kenntnisse sowie die Bekanntschaft mit wahren Menschen aus der Geschichte und mit wertvollen Liedern und Sprüchen vermittelt werden.

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