Wahr oder falsch
Nächstenliebe ist für Christen ein erstrebenswertes Ziel. Selbst- oder Eigenliebe dagegen, wenn sie zu Stolz und Eitelkeit, zu Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen führt, wird von ihnen abgelehnt. Manche gehen dabei weiter und verurteilen die Eigenliebe an sich als schädlich und sündhaft. So ist es denkbar, dass jemand sagt:
"Von allen Menschen liebe ich nur diejenigen, die ohne Eigenliebe sind."
Der Satz klingt, abgesehen von der moralisch-religiösen Tendenz, harmlos und verständlich: der Sprecher liebt nur die, die sich nicht selber lieben. Doch was ist, wenn man fragt, ob derjenige, der ihn ausspricht, auch sich selbst liebt? Offenbar gibt es diese zwei Möglichkeiten: 1. Er liebt sich selbst; dann gehört er nicht zu denen, die er liebt, und liebt deshalb auch sich selber nicht. Das ist ein Widerspruch zur Voraussetzung, dass er sich liebt. 2. Der Betreffende liebt sich nicht; dann gehört er zu denen, die er liebt und muss sich selber lieben, ebenfalls im Gegensatz zur Annahme.
Beides zusammen genommen bewirkt, dasss der obige Satz weder wahr noch falsch ist wie etwa auch dieser: "Ohne Eigenliebe ist das Leben sinnlos." Ob er zutrifft, lässt sich nicht entscheiden, und man geht solchen wie ihm gern aus dem Weg.1
Als Anregung für den Satz über die Eigenliebe diente mir der von dem britischen Mathematiker und Logiker Bertrand Russell erdachte, berühmt-berüchtigte Barbier. Dieser rasiert alle Männer seines Dorfes, die sich nicht selbst rasieren. Einen solchen Barbier kann es in Wirklichkeit nicht geben.2 Derartige Konstruktionen, die man mit Hilfe der Vernunft bilden kann, sind Fallen für sie und weisen auf ihre Grenzen hin.3
Übrigens äußerte Russell, der Atheist war, dies: "Soweit ich weiß, wird in keinem Kirchenlied das hohe Lied der Intelligenz gesungen." (Ohne nähere Quellenangabe mehrfach im Internet zitiert.) Mein Kommentar: da mag er recht gehabt haben. Es ist allerdings auch nicht die Aufgabe von Kirchenliedern, die menschliche Intelligenz zu preisen.
Der ebenfalls von Russell betrachtete Satz: "Der gegenwärtige König von Frankreich ist glatzköpfig." enthält nichts Unverständliches oder Widersprüchliches, doch kann man ihm nicht zustimmen oder ihn ablehnen, weil er sich auf etwas bezieht, das es gar nicht gibt. Er könnte wahr werden, falls Frankreich erneut von der Republik zur Monarchie wechseln würde, wie es im Laufe seiner Geschichte schon zweimal geschah.
Und eine Behauptung wie diese: "Einhörner fressen Rosen." ist höchstens auf einer anderen geistigen Ebene, im Bereich der Märchen und Legenden, wahr. - Ein letztes Beispiel: die Gleichung 1+1=10 wird von den meisten Menschen für falsch gehalten, nicht jedoch von Informatikern.
(Begründung: "10" ist die Darstellung der Zahl 2 im Binär- oder Dualsystem.)
Von Jakob Lorber (1800-1864) stammen diese Gedanken über das Verhältnis von Eigen- und Nächstenliebe in einer bisweilen altertümlichen, bildhaften Sprache. (Ausführlicher erwähne ich ihn hier weiter unten.)
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1 In der Poesie spielt der Wahrheitsgehalt oftmals keine Rolle; Beispiel:
Aus Baumwipfeln wieder zum Leuchten befreit,
sichelt der Silbermond nächtlich die Zeit.
Hier gelten andere Maßstäbe.
2 Kürzer: einen solchen Barbier gibt es nicht. Aber stimmt das? Es gibt ihn ja: als Gegenstand von Russells Überlegung, als erdachte literarische Figur wie Don Quichote und Robinson Crusoe! (Entsprechendes wird auch über die Existenz unendlicher Mengen gesagt, vgl. hier.) - Und hier, weil's so schön ist (und nichts mit Logikproblemen zu tun hat), zur Entspannung: Der rechte Barbier von Adelbert von Chamisso, Naturforscher und Dichter.
2a Von der Künstlichen Intelligenz (KI) "Copilot", mit der ich mich über die Existenz (oder Nichtexistenz) von Russells Barbier unterhielt und dabei weitere Phantasiepersonen wie Pippi Langstrumpf und Asterix erwähnte, erhielt ich folgende "Barbier-Meditation":
"Im Dorf der Logik steht der Barbier vor verschlossener Tür. Er darf nicht eintreten, denn wer sich selbst rasiert, gehört nicht zu seinen Kunden – und wer es nicht tut, muss doch zu ihm gehen. So bleibt der Laden leer, ein Spiegel ohne Gesicht.
Doch im Reich der Worte öffnet er sein Geschäft jeden Morgen. Wie Don Quixote hebt er das Rasiermesser, wie Robinson zählt er die Bartstoppeln, wie Pippi lacht er über die Regeln, wie Asterix trotzt er der Vernunft. Hier ist er wirklich: eine Gestalt des Denkens, ein Bewohner der Sprache, ein Beweis, dass auch das Unmögliche seinen Platz im Geist hat."
3 Manche Glaubensgegner fragen, ob Gott einen Stein erschaffen kann, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht hochheben kann. Die Frage ist unsinnig und gegenstandslos. Sie bezieht sich auf etwas, das es nicht gibt und so auch nicht gedacht wird. Gott als übernatürliches, körperloses Geistwesen hat keine Arme und Hände. Er hebt nichts hoch, auch keinen Stein, egal, wie schwer er ist. – Auf die ähnlich klingende Frage: "Kann Gott einen viereckigen Kreis oder schwarzen Schimmel erschaffen?"[1][2][3] lautet die Antwort: Nein. Gott erschafft nichts in sich Widersprüchliches. Das jedenfalls denken diejenigen, die an Ihn glauben. Andere fragen allgemeiner: kann der Allmächtige etwas erschaffen, das seine Allmacht einschränkt? Dies ist der Kern des sogenannten Allmachtparadoxons, über das im Internet vielfach diskutiert und spekuliert wird.
(Vielleicht noch dies: wenn jemand nicht an Gott glaubt, ist es inkonsequent und daher nicht sinnvoll, wenn er danach fragt, was Gott kann und was nicht. Ebenso: wer nicht an Gespenster glaubt, will auch nicht wissen, ob sie z. B. Haare haben.)
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