Abraham und Isaak

Auch wer wenig von der Bibel weiß, kennt oftmals die Geschichte von Abraham und Isaak, in der beinahe ein religiös motivierter Kindesmord geschah. Ihr gilt die folgende Betrachtung.

Im alten Israel, das zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, noch nicht so hieß, wurde es als ein schweres Unglück, ja als Schande angesehen, wenn eine Frau kein Kind bekam. Dies kehrt an verschiedenen Stellen der Bibel wieder und war lange Zeit auch das Schicksal Sarahs, der Frau Abrahams. Erst als er 100 und sie 90 Jahre alt ist, bekommen sie einen Sohn, den sie Isaak nennen.

Eines Tages erhält Abraham von Gott den Befehl, den Jungen zu töten und ihm zu opfern. Abraham steigt mit dem ahnungs- und arglosen Kind auf einen Berg, errichtet dort einen Altar, bindet Isaak und legt ihn darauf. Erst jetzt merkt dieser, was ihm bevorsteht. In letzter Sekunde hört Abraham Gottes Stimme, der ihn einzuhalten heißt. Er lässt das Messer fallen, und an Isaaks Stelle wird ein in der Nähe befindlicher Widder geopfert.

Das linke Bild hierzu ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Caravaggio (1571-1610), vollständig zu sehen bei Wikipedia:

 

Es zeigt das Entsetzen des wehrlosen Knaben und die Hand eines rettenden Engels. Das rechte Bild ist von Rembrandt (1606-69) und stammt von dieser Wikipediaseite. Über Abraham und Isaak siehe auch noch ein modernes Bild von Adi Holzer.

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Die Bibel drückt sich sehr konzentriert aus – kurz zusammengefasst: Gott befiehlt, Abraham gehorcht, und nach der nicht zuende geführten Opferung erneuert Gott sein Versprechen, dass Abraham eine besonders reiche Nachkommenschaft haben werde.

Was zwischen Vater und Sohn vor sich ging, als dieser gefesselt wurde und das Messer auf sich gerichtet sah; ob der Kleine weinte oder schrie; was die beiden beim Abstieg von dem Berg zueinander sagten, oder ob Isaak, immer noch schockiert, die ganze Zeit schweigend hinter dem Vater her trottete; was sie der zu Hause wartenden Mutter erzählten: über all' dies berichtet der biblische Text mit keinem Wort. Man muss es sich selber vorstellen. Dass durch das fürchterliche Erlebnis des Jungen sein Grundvertrauen zum Vater ins Wanken kam, wenn nicht gänzlich zerstört wurde – auch das scheint vollkommen nebensächlich zu sein. So wirkt die grausame Geschichte insgesamt auf mich abstoßend, und ich kann mich den zahllosen Predigten, Bibelauslegungen und -kommentaren, in denen das Verhalten Abrahams gelobt wird, nicht anschließen.

Anzunehmen ist, dass Abraham nicht leichten Herzens bereit war, den von Gott erhaltenen Auftrag auszuführen, sondern dass dieser ihn zutiefst erschütterte und unglücklich machte, denn er liebte Isaak. Dabei hätte er die Möglichkeit gehabt, Gott zu sagen: "Nein, Herr, das tue ich nicht. Eher will ich selber sterben, als meinem Sohn ein Leid anzutun, wie Du es von mir verlangst." Abraham war schon alt, und die Jahre, die er noch zu erwarten hatte, wären wenig gegen Isaaks Leben gewesen, das noch vor ihm lag.

Die Nachbarvölker der Israeliten opferten ihren Göttern Kinder; dies wird z. B. in 2. Kön. mehrfach erwähnt. Als der Gott Israels Abraham aufforderte, Isaak zu opfern, verlangte er von ihm dasselbe, was die Israeliten bei den anderen Völkern verabscheuten. Auch deshalb hätte Abraham sich weigern können, den Befehl auszuführen.

Bei einer früheren Gelegenheit verhielt er sich anders. Dabei ging es ebenfalls um die Bewahrung von Menschenleben, und Abraham redete mit Gott, ja handelte regelrecht mit ihm. Es ist die Geschichte von der Stadt Sodom. Ursprünglich wollte Gott sie mit allen ihren Einwohnern vernichten, aber durch Abraham ließ er sich schrittweise zu immer größerer Milde umstimmen, vgl. 1. Mos. 18,16-33.1

Im Deutschen und in einigen anderen europäischen Sprachen gibt es das hässlich klingende Wort "Kadavergehorsam", das auf mittelalterliche kirchliche Quellen zurückgeht, vgl. hier. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es deutschen Soldaten vorgehalten, die Befehle ausführten, obwohl sie wussten, dass sie unrecht waren und oftmals auch gegen das eigene Gewissen verstießen. Abraham handelte bei der von Gott geforderten Opferung Isaaks – milder ausgedrückt – in blindem Gehorsam. Was ihm dabei sein Gewissen sagte, ist schwer auszumachen. Der Begriff "Gewissen" kommt, soweit ich sehe, im Alten Testament nur an zwei Stellen vor (Josua 14,7; Hiob 27,6) und war damals anscheinend wenig gebräuchlich, während er im Neuen Testament recht häufig ist (an über zwanzig Stellen) und von Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms zur Begründung seiner unnachgiebigen Haltung verwendet wurde. –

Nicht nur dem Jungen verheimlichte Abraham den Zweck der gemeinsamen Bergbesteigung, sondern auch den sie begleitenden Knechten sagte er nicht die Wahrheit, indem er sie anwies, so lange zu warten, bis sie beide wieder zurückkämen (1. Mos. 22,5). Vielleicht vertraute er auf Gott, dass am Ende doch noch alles gut werde. – Im Internet finden sich Vergleiche zwischen Isaak, der unschuldig geopfert werden sollte, und Jesus, der es tatsächlich wurde. Durch die befohlene und vorbereitete, im letzten Augenblick abgebrochene Opferung Isaaks habe sich, so glauben manche, bereits Gottes Heilsplan für die gesamte Menschheit angekündigt.

Die Fast-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham beschäftigte Theologen, Künstler, Philosophen und Dichter, unter ihnen Søren Kierkegaard, der das Thema hier eigenwillig variierte.
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1 Über Abraham und seinen Neffen Lot: eine Predigt

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