Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen

Seit der Antike gibt es eine bestimmte Art geometrischer Konstruktionen, die allein mit Zirkel und Lineal ausgeführt werden.1) Das Lineal darf keine Markierungen haben, während über den Zirkel nichts weiter vorausgesetzt wird. Als selbstverständlich gilt, daß der Winkel zwischen seinen Schenkeln beliebig zwischen 0 und 180 Grad eingestellt werden kann.

Was aber ergibt sich, wenn der Zirkel eingerostet und nicht verstellbar ist? Kann man dann die "klassischen" Nur-mit-Zirkel-und-Lineal-Konstruktionen nicht mehr ausführen oder nur einen geringen Teil davon?

Dies untersuchte der persische Astronom und Mathematiker Abul Wefa 2), der vor rund tausend Jahren in Bagdad lebte, an einzelnen Beispielen. Auf der Internetseite [1] wird darüber berichtet und erwähnt, daß der französische Mathematiker Victor Poncelet im 19. Jahrhundert den Grundstein für den Beweis legte, dass alle Konstruktionen mit Zirkel und Lineal bereits mit Lineal und einem festen Zirkel möglich sind. Der strenge Beweis dafür, so heißt es auf derselben Seite, stammt von dem Schweizer Jacob Steiner.

Hingewiesen wird dort auch auf den Londoner William Leybourn, der 1694 in einem Buch schrieb: "Hier wird gezeigt, wie man (ohne Zirkel) nur mit Hilfe einer gewöhnlichen Gabel (oder eines ähnlichen Instrumentes, das sich weder weiter noch enger stellen lässt) und eines einfachen Lineals viele erfreuliche und reizende geometrische Operationen ausführen kann."

Daß sich der Zirkel nicht beliebig einstellen läßt, bedeutet eine Einschränkung der klassischen, aus der Antike überlieferten Vorgehensweise, doch hat sie nach dem Beweis von Steiner keine schädlichen, prinzipiellen Auswirkungen. Mit dem "rostigen Zirkel" wird manches lediglich komplizierter und erfordert mehr Überlegung, was nicht unbedingt ein Nachteil ist.

Schwieriger wird es auch bei einer anderen Einschränkung, die längere Zeit dem italienischen Mathematiker Lorenzo Mascheroni (1750-1800) zugeschrieben wurde; dieser wurde vor allem durch die nach ihm und Euler benannte Konstante bekannt.3) In seiner 1797 erschienenen Schrift "Geometria del compasso" bewies er, dass jede Konstruktion mit Zirkel und Lineal auch mit einem beweglichen Zirkel allein ausgeführt werden kann. Das bei dem klassischen Vorgehen benutzte Lineal erweist sich somit als überflüssig.

Auf der Seite [2] werden drei, nur mit dem Zirkel ausgeführte Konstruktionen wiedergegeben - zwei davon von Mascheroni selbst -, bei denen der Mittelpunkt einer durch ihre beiden Endpunkte gegebenen Strecke gesucht ist. Auch die als "einfach" bezeichnete ist trickreich; auf sie wäre ich selber nicht gekommen.

Eine Aufgabe, die klassisch sehr leicht zu lösen ist (man braucht dazu nicht einmal den Zirkel, sondern nur das Lineal), lautet: "Konstruiere den Schnittpunkt zweier Strecken, deren Endpunkte gegeben sind." Wie man das allein mit dem Zirkel schaffen soll, ist mir ebenfalls schleierhaft.

1928 entdeckte der dänische Mathematiker Johannes Hjelmslev in einer Kopenhagener Buchhandlung ein Buch seines Landsmanns Georg Mohr mit dem Titel "Der dänische Euklid", erschienen 1672, also lange vor Mascheroni, das bereits dessen Ideen und Resultate enthielt. Seit diesem Fund hat es sich eingebürgert, die Konstruktionen allein mit dem Zirkel als Mohr-Mascheroni-Konstruktionen zu bezeichnen. [3]

Bei ihrer Rechtfertigung und praktischen Anwendung spielt die Inversion (Spiegelung am Kreis) eine Rolle, durch die Geraden zu Kreisen werden. Bemerkungen hierzu, auf die ich nicht näher eingehen möchte, findet man hier [4].

Während im 19. Jahrhundert die Konstruktionen allein mit dem Zirkel zum Teil Unterrichtsgegenstand am Gymnasium waren [5], scheinen sie heute nahezu vergessen zu sein. Vielleicht trägt das Vorstehende ein wenig dazu bei, das Interesse an ihnen auf dem Matheplaneten neu zu beleben.

Hans-Jürgen

1) Sie sind nicht die einzigen; die mit zwei Pflöcken und einer Schnur funktionierende "Gärtnerkonstruktion" einer Ellipse, zum Beispiel, gehört nicht dazu.
2) vollständiger Name: Abul Wefa Muhammad Ibn Yahya Ibn Ismail al-Buzjani (940-997 n. Chr.)
3) Euler-Mascheronische Konstante: γ≈0,5772156649 (Wikipedia)

[1] www.oliver-bieri.ch/mascheroni/abul.htm
[2] www.oliver-bieri.ch/mascheroni/mascheroni_strecke.htm
[3] www.cut-the-knot.org/do_you_know/compass.shtml 
[4] www.mathematik.de/.../kreisverwandteabbildungen.html  Abschnitt A
[5] Hutt, E. Die Mascheroni'schen Konstruktionen für die Zwecke höherer Lehranstalten und zum Selbstunterrichte. Halle, H. W. Schmidt, 1880.

Re: Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen
von Jonathan_Scholbach am Sa. 09. Juni 2007 17:41:49


Interessante Phänomene, allerdings hätte ich mir noch mehr Details gewünscht - so wird man erstmal angefüttert, und dann bleibt man hungrig zurück. :-)

Gruß Jonathan



Re: Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen
von marco123 am So. 10. Juni 2007 20:52:56


Sehr spannendes Thema, aber wie mein Vorredner schon sagte: Hoffentlich macht sich jemand die Mühe, dies zu vertiefen. Aber vielen Dank, für den Wink. Da wird die Geometrie doch gleich wieder lebendiger.



Re: Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen
von philippw am Mo. 11. Juni 2007 12:20:51


"Eine Aufgabe, die klassisch sehr leicht zu lösen ist (man braucht dazu nicht einmal den Zirkel, sondern nur das Lineal), lautet: "Konstruiere den Schnittpunkt zweier Strecken, deren Endpunkte gegeben sind." Wie man das allein mit dem Zirkel schaffen soll, ist mir ebenfalls schleierhaft."

Du hast den Link doch selbst angegeben, wo man das findet:
www.cut-the-knot.org/do_you_know/compass.shtml
Problem 11



Re: Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen
von Hans-Juergen am Mo. 11. Juni 2007 19:34:03 http://www.hjcaspar.de


Hi Jonathan, marco und philippw,

mein kurzer Beitrag verfolgt den Zweck, auf ein heutzutage
weitgehend unbekanntes Gebiet der Geometrie Appetit zu
machen, mehr nicht. Ich verzichtete deshalb darauf, fertige
Ergebnisse zu präsentieren, um niemandem die Gelegenheit
zu nehmen, selber unbeeinflußt nachzudenken, und gab bei
einer der beiden genannten Konstruktionsaufgaben nur an,
wo die Lösung steht. Das mit Problem 11 auf der englischen
Seite [3] war mir bekannt. Ich habe die dortigen Angaben
absichtlich nicht genau durchgelesen, sondern nur überflogen
und dabei festgestellt, daß die Lösung sehr aufwendig ist.
So bleibt sie
mir vorerst "schleierhaft".

Zweierlei sei noch angemerkt: erstens ist es sehr leicht, im
Internet mit copy and paste irgendwoher etwas zu über-
nehmen und bei sich selber einzubauen. Das zeigt sich zum
Beispiel an der in [2] an erster Stelle wiedergegebenen
Mascheroni-Konstruktion, deren Begleittext den unverständlichen
Satz enthält: "Der neue Punkt E liegt auf der Verlängerung
von AB und ist doppelt so gross." (Ein Punkt kann nicht doppelt
so groß wie ein anderer oder eine Strecke sein; hier fehlt etwas.)
Man findet den ganzen Absatz unverändert auch hier. Wer dabei
von wem "abgekupfert" hat, bzw. auf welche gemeinsame, nicht
genannte Quelle sich beide Autoren berufen, bleibt unklar.

Zweitens möchte ich noch auf diese Seite hinweisen. Dort wird auf die
bei den Mohr-Mascheronischen Konstruktionen mögliche Verwendung
der Inversion näher eingegangen.

Mit freundlichem Gruß,
Hans-Jürgen


Re: Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen
von Bernhard am Mi. 13. Juni 2007 00:45:42


Das macht Appetit auf mehr!
Diese möglichen Einschränkungen der klassischen Konstruktion waren für mich völlig neu.
Schade, daß das Interesse daran so abnimmt.
Wir haben von "der Konstruktion mit Zirkel und Lineal" in der Schule nie etwas gehört. Wir kannten nur das Geodreieck - da war ja quasi alles Konstruieren schon vorgekaut.
Wie war das eigentlich bei Euch?

Bernhard



Re: Geometrische Konstruktionen mit Einschränkungen
von kostja am Mi. 13. Juni 2007 11:37:22 http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~kheil


Bernhard schreibt:
Wir haben von "der Konstruktion mit Zirkel und Lineal" in der Schule nie etwas gehört. Wir kannten nur das Geodreieck - da war ja quasi alles Konstruieren schon vorgekaut.

Hallo! Das ist ja wirklich krass. Bei uns bestand die Geometrie in der siebten und achten Klasse eigentlich fast nur daraus Konstruktionsbeschreibungen zu verfassen und die Konstruktionen durchzuführen. Und wehe, man hat eine Strecke oder einen Winkel nicht mit dem Zirkel abgetragen, sondern hat das Geodreieck eingesetzt.

Erst in der Mitte der Achten, als man davon ausgehen konnte, das man die Schritte für die Konstruktion von wesentlichen Schritten verstanden hat, durfte man dann auch das Geodreieck zur Arbeitserleichterung und Zeitersparniss einsetzen.

MfG Konstantin

Zurück zur Themenübersicht, Teil 2