Über Produkte

Das Wort "Produkt" machte im Laufe der Jahrhunderte einen bemerkenswerten Bedeutungswandel durch. Er führte zu immer weitergehenden Erkenntnissen und Anwendungen in der reinen und angewandten Mathematik sowie bei der Lösung technischer und ökonomischer Probleme.

Begonnen hat es mit der Multiplikation natürlicher Zahlen. Sie ist im Grunde eine wiederholte Addition: zu einer natürlichen Zahl n wird diese (m-1)-mal addiert, wobei m ebenfalls natürlich ist. Das Ergebnis ist das m-fache von n und wird das Produkt m·n genannt. Veranschaulichen lässt sich die Multiplikation natürlicher Zahlen durch das Aneinanderlegen gleich langer Stäbe. (Bemerkung: während die Wörter Addition und Multiplikation auf die lateinischen Verben addere=hinzufügen und multiplicare=vervielfältigen zurück gehen und direkt angeben, was gemacht wird, ist der Ausdruck "Produkt" neutral und hat als Ursprung einfach nur producere=hervorbringen, erzeugen. Diese Wortneutralität erweist sich für das Folgende als vorteilhaft.)

Schon beim Multiplizieren zweier Brüche verliert diese Rechenart ihre ursprüngliche Bedeutung als wiederholte Addition: man kann, zum Beispiel, den Bruch ⅝ nicht (¾-1)-mal addieren. Das Produkt der beiden Brüche p/q und r/s wird nunmehr unanschaulich definiert als "(Zähler mal Zähler) durch (Nenner mal Nenner)", wobei die Klammern andeuten, was zusammengehört.

Auch bei der Multiplikation negativer Zahlen musste das Produkt extra definiert werden; es gilt: "minus mal minus = plus". (Diese Feststetzung lässt sich auf verschiedene Weise motivieren, die im Internet dargestellt werden, was ich hier nicht wiederholen möchte.)

Und als bei bestimmten Aufgaben die seltsame, auf manche Mathematiker unheimlich oder geisterhaft wirkende, "imaginäre" Zahl i in Erscheinung trat, erwies es sich als sinnvoll, i · i = - 1 zu setzen.

i steht meist nicht für sich allein, sondern bildet zusammen mit "reellen" Zahlen a,b,c, ... komplexe Zahlen wie z₁=a+bi, z₂=c+di. In einem ebenen kartesischen Koordinatensystem mit der reeellen x- und der imaginären iy-Achse lassen sie sich als vom Ursprung ausgehende Pfeile veranschaulichen. Das Produkt von ihnen wird so gebildet: z₁z₂=(a+bi)(c+di)
=ac-bd+(ad+bc)i. Wenn der Pfeil z₁ mit dem Pfeil z₂ "multipliziert" wird, bedeutet das, dass er nicht nur verlängert (bzw. verkürzt), sondern auch gedreht wird.

Außer den komplexen Zahlen gibt es auch "hyperkomplexe", zu denen die Quaternionen gehören. Bevor ich mich ihnen zuwende, muss ich erst auf die Vektoren eingehen, die bei den Quaternionen eine gewisse Rolle spielen.

Vektoren sind algebraische Gebilde, die sich ebenfalls durch Pfeile veranschaulichen lassen, jedenfalls in der Ebene und im dreidimensionalen Raum (bei höherdimensionalen Räumen geht diese Möglichkeit verloren). Die imaginäre Einheit i wird hierbei nicht verwendet, und der Buchstabe i hat bei den Vektoren eine andere Bedeutung als bei den komplexen Zahlen. Man schreibt: Vektor v=ai+bj im zweidimensionalen und w=ci+dj+ek im dreidimensionalen Fall. (Anstelle der fett gedruckten Buchstaben verwendet man auch magere mit darübergesetztem Pfeil oder Frakturbuchstaben.) a bis e sind reelle Zahlen, i,j,k vom Ursprung eines kartesischen Koordinatensystems ausgehende und auf dessen Achsen liegende Pfeile der Länge 1, sogenannte Einheitsvektoren. Die Addition von Vektoren der Ebene geschieht wie bei den Pfeilen der komplexen Zahlen.

Für die Multiplikation gibt es bei den Vektoren, was vielleicht erstaunt, drei Möglichkeiten: Erstens die Multiplikation eines Vektors mit einem Skalar, d. h. einer reellen Zahl. Es ergibt sich ein Vektor. Zweitens die sogenannte "skalare" Multiplikation zweier Vektoren: u·v. Das Produkt ist ein Skalar und heißt Skalarprodukt. Drittens das Vektorprodukt u×v, das wieder ein Vektor ist. Ein anderer Name dafür ist Kreuzprodukt und eine andere Schreibweise uv. Da dieses Verknüpfungszeichen wie ein Dach aussieht, sagt man auch "Dachprodukt". Die Definitionen von Skalar- und Vektorprodukt findet man im Internet und sollen hier nicht behandelt werden.

Nun zu den Quaternionen. Sie wurden von dem irischen Mathematiker und Physiker Sir William Rowan Hamilton (1805-1865) erfunden und stellen eine Erweiterung der komplexen Zahlen dar. Mit ihnen kann man Drehungen im 3D-Raum beschreiben (mit den komplexen Zahlen nur im 2D-Raum, d. h. in der Ebene.)

Eine Quaternion sieht z. B. so aus q=x0+x1i+x2j+x3k, wobei i,j,k keine Einheitsvektoren sind, sondern Zahlen, für die die Hamilton-Regeln i²=j²=k²=ijk=-1 gelten. (Fasst man i,j,k trotzdem als Einheitsvektoren auf, erscheint q als Summe aus einem Skalar und einem dreidimensionelen Vektor: q=x0+v mit v=x1i+x2j+x3k.)

Die Addition zweier Quaternionen ist nicht besonders kompliziert, im Gegensatz zu ihrem Produkt:
(nach Wikipedia)
(Mit x2=x3=y2=y3=0 wird xy = x0y0-x1y1+(x0y1+x1y0)i wie bei den komplexen Zahlen.)

In der Geometrischen Algebra (GA) wird aus den beiden oben genannten Produkten u·v und uv zweier Vektoren u und v ein weiteres Produkt definiert und verwendet: uv=u·v+uv, das "geometrische Produkt". (Achtung: links steht kein Punkt!) Das geometrische Produkt wie auch die Vektorrechnung geht auf Herrmann Graßmann (1809 bis 1877) zurück. Hier wird auf S. 4 erwähnt, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem geometrischen Produkt und der Quaternionen-multiplikation besteht. Zwei weitere Produkte betrachtete Graßmann in seiner Ausdehnungslehre auf S. 183ff: das von ihm so genannte planimetrsiche und das stereometrische Produkt.

Die GA ist nicht nur für Mathematiker, sondern auch für Informatiker interessant. Technisch angewendet wird sie unter anderem in der Computergrafik und Robotik. In den folgend verlinkten Artikeln treten außer dem geometrischen Produkt weitere neuartige Begriffe und Vektorhierarchien auf.

http://www.gaalop.de/dhilden_data/BzMU10_OLDENBURG_Reinhard_Geometrischealgebra.pdf
https://mas.goetheanum.org/fileadmin/mas/downloads/Mitarbeitende/ConradtOliver/GA_2D.pdf
http://www.mas.goetheanum.org/fileadmin/mas/downloads/Mitarbeitende/ConradtOliver/GA_3D.pdf
https://books.google.de/books/about/Foundations_of_Geometric_Algebra~
Geometrische Algebra in der Schule. - Akademisch gelehrt wird die Geometrische Algebra unter anderem an den Technischen Universitäten Darmstadt und München, der Universität Stuttgart und der Universität Bremen.

Ergänzungen:
1. Ein weiteres Produkt ist sogenannte Kartesische Produkt AxB zweier Mengen A und B. Ausführliches dazu s. z. B. hier.
2. Dieses online lesbare Buch über Herrmann Graßmann enthält auf S. 17 eine Beschreibung William Rowan Hamiltons als Kind mit außergewöhnlichen, nahezu unvorstellbaren intellektuellen Eigenschaften. Das Buch las ich mit Freude und Anteilnahme am Leben und Wirken Herrmann Graßmanns. Es enthält Vieles über sein persönliches und wissenschaftliches Verhältnis zum Vater, Bruder und Sohn sowie über den Philosophen und Theologen Friedrich Schleiermacher, der in ihrem Denken eine nicht unbedeutende Rolle spielte. (Das über S. Mitgeteilte bleibt mir insgesamt "schleierhaft"; wesentlich informativer ist der Wikipedia-Artikel über ihn. Der Autor des Buches ist ein marxistischer Philosophieprofessor, was dem Buch an einigen Stellen auch anzumerken ist.)

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