Über Dichter und Naturwissenschaft

Daß Dichter sich mit der Natur wissenschaftlich beschäftigen, ist verhältnismäßig selten. Gewiß: es gab Goethe, der lieber als Naturwissenschaftler denn als Dichter berühmt sein wollte – bekanntlich entwickelte er eine eigene Farbenlehre, die derjenigen Newtons entgegengesetzt war, und er entdeckte den menschlichen Zwischenkieferknochen, der in der Evolutionslehre eine Rolle spielt – , und es gab den österreichischen Dichter Adalbert Stifter (1805 bis 1868), der eine selbsterlebte, für die meisten Menschen äußerst seltene Sonnenfinsternis minutiös und zugleich poetisch beschrieb; doch gehören diese beiden nach meinem Wissen zu den großen Ausnahmen. (Nachlesen kann man Stifters Bericht, der weit mehr ist, auf den Seiten des "Literaturcafés" hier.)

Wenn sich Dichter der Natur widmen, dann besingen sie sie im allgemeinen: den Frühling, die Sonne, den Sommer und den Herbst; mehr melancholisch auch den Winter. Und nicht zu vergessen: den Mond, besonders in Gedichten, die teilweise auch vertont und fast zu Volksliedern wurden. Lyrisch und dramatisch behandelt wurden und werden von ihnen der Sturm – speziell der Schneesturm, z. B. von Puschkin  –, das Meer, Erdbeben und feuerspeiende Berge ebenso wie zarte Pflanzen und Blumen oder wilde Tiere.

Eine weitere Ausnahme, bis heute nachwirkend und von Kennern gerühmt, bildete der römische Dichter Lukrez (um 97 bis 55 v. Chr.). Er schrieb ein langes Lehrgedicht in klassischen Hexametern, das ursprünglich aus sechs Büchern bestand und heutzutage in einem zusammengefaßt wiedergegeben wird. Es heißt "De rerum natura" – Über die Natur der Dinge. In ihm werden die oben erwähnten Naturgegenstände und -vorgänge auf wunderbare Weise beschrieben und kommentiert, doch ist das längst nicht alles, was die Bedeutung dieses Werkes ausmacht. Vielmehr wendet sich der Autor auch dem Unsichtbaren zu: den Atomen, der Feuchtigkeit, Wärme und Kälte, dem Schall, dem "Leeren" (Vakuum) und der Zeit. Ein Ausschnitt aus der Übersetzung von Herrmann Diels möge einen kleinen Eindruck vom Werk des Lukrez vermitteln:
...
Hängst du ferner dein Kleid an dem flutumbrandeten Strand auf,
Feucht wird es dort, doch es trocknet auch wieder in glühender Sonne;
Aber man hat nicht gesehn, wie des Wassers Nässe hineinkam
In das Gewand, noch andererseits, wie es floh von der Hitze.
Also muß sich das Naß in winzige Teilchen zerteilen,
Die auf keinerlei Weise das Auge zu sehen imstand ist.

Ja auch der Fingerreif wird innen durch stetiges Tragen
Immer dünner im Laufe wiederkehrender Jahre.
Gleich wie der fallende Tropfen den Stein höhlt, also vernutzt sich
Auch an dem Pfluge die eiserne Schar unmerklich im Boden.
...
Das kann nimmer ein Auge erspähn mit gespanntestem Blicke.
Ebensowenig vermagst du zu sehn, was das dörrende Alter
Wegnimmt, oder am Meer, was die überhängenden Felsen,
Welche das Salz zernaget, in jedem Momente verlieren.
Unsichtbar sind also die Körper, durch die die Natur wirkt.

Es wäre, allein schon aus Platzgründen, unangebracht, wollte ich  hier meiner Bewunderung für Lukrez Kritisches gegenüberstellen. Deshalb beschränke ich mich auf das bloße Zitieren zweier seiner weiteren Gedanken. Der erste betrifft die menschliche Seele. Über sie schreibt er einleitend:

Denn man weiß ja noch nichts von dem Wesen der Seele; man weiß nicht,
Ob sie schon mit der Geburt in uns eingeht oder ob dann erst
Sie entsteht und im Tod mit dem Leibe sich auflöst;
Ob sie im Orkus verschwindet und seinen geräumigen Schlüften
Oder ob Götterbefehl sie in andre Geschöpfe verbannet ...

Also ziemt uns zunächst auf die himmlischen Dinge zu achten
Und mit Fleiß zu erforschen die Bahnen der Sonn' und des Mondes,
Wie sie laufen und welcherlei Kraft sich in allem betätigt
Hier auf Erden. Doch forschenswert vor allem bedünkt mich
Unsere Seele, woher sie stammt, und das Wesen des Geistes ...

Beide, Seele und Geist, bestehen nach Lukrez' Meinung aus Atomen wie auch die materiellen Körper; nur sind diese Seelen- und Geistatome die allerfeinsten und kleinsten, die es gibt. In vielen Versen sucht er diese seine Anschauung zu begründen.

Das zweite, das hier nur kurz zitiert sei, betrifft die Sinneswahrnehmungen. Hierzu schreibt der Dichter:

Du wirst folgendes finden: die Sinne verschaffen vor allem
Uns die Erkenntnis des Wahren; die Sinne sind unwiderleglich. ...

Soweit Lukrez. Ein anderer, diesmal deutscher, in der Schweiz geborener Dichter, der sich mit naturwissenschaftlichen Dingen beschäftigte (zwar nicht in Versform, dafür aber auch mit quantitativen Aussagen), war Johann Peter Hebel. Über ihn könnte ich in einem weiteren Artikel berichten, falls Interesse daran bestehen sollte. (Hebel war auch als Lehrer tätig und unterrichtete unter anderem Mathematik.)

Hans-Jürgen


Re: Über Dichter und Naturwissenschaft

von Anonymous am So. 03. September 2006 15:07:58
Hallo Hans Jürgen,

Du hast meine Bewunderung für Deine Sicht von naturwissenschaftlichen Dingen, und wenn ich entscheiden könnte, wäre meine Antwort auf Deine Frage am Ende Deines schönen Beitrages: Ja, ein weiterer Artikel über Johann Peter Hebel und seine quantitative Sicht wäre toll!

Der von Dir zitierte Dichter Lukrez erinnert mich dunkel an meinen Lateinlehrer, beide hätte ich jetzt nicht mit Physik oder Mathematik in Zusammenhang gebracht. Es wäre Zeit, das nachzulesen...

Juergen


Re: Über Dichter und Naturwissenschaft
von FlorianM am So. 03. September 2006 15:25:46 http://www.mathe1.de

Hallo Hans-Jürgen,
Ich kann da Juergen nur zu stimmen. Deine Ansichten sind sehr interessant! Auch ich würde mich über einen weiteren Artikel freuen.

Gruss Florian


Re: Über Dichter und Naturwissenschaft
von Hans-Juergen am Di. 05. September 2006 10:48:53

Hi,

danke für die freundlichen Worte.

Hier noch ein Nachtrag darüber, was Lukrez in seinem Buch über den Mond schrieb. Ich finde vor allem den zweiten Absatz der folgenden Verse interessant:

Woher leuchtet der Mond? Getroffen vom Strahle der Sonne
Kann er uns bieten sein Licht zum Anschaun, während es täglich
Größer und größer erscheint, je mehr die Sonne entfliehet,
Bis er dann ihr gegenüber in herrlichstem Vollmondglanze
Strahlt und versinken sie sieht, wenn er selbst sich erhebend emporsteigt;
Ebenso muß er jedoch  allmählich sein Licht uns
Rückwärts wandelnd verbergen, je mehr er dem Feuer der Sonne
Nun von der anderen Seite des himmlischen Kreises sich nähert.
So erklären es manche, die kugelförmig den Mond sich
Denken und unter der Sonne die Bahn ihn lassen durchwandeln.

Aber es läßt sich auch denken, warum er mit eigenem Lichte
Strahlend sich dehnt und doch so verschiedene Formen des Lichts zeigt.
Denn da könnte ja auch noch ein anderer Körper im Spiel sein,
Der sich zugleich mit ihm dreht und auf mancherlei Art in den Weg läuft,
Aber nicht sichtbar ist, weil er lichtlos gleitet im Dunkeln.
 
Bild

Dichterisch tätig war übrigens auch Johannes Kepler, zumindest bei seinem berühmten "Mysterium cosmographicum" ("Weltgeheimnis") mit einem mechanischen Modell (s. Bild), das die damals bekannten sechs Planeten mit den fünf Platonischen Körpern in Verbindung brachte. Hierzu schrieb er eine lateinische Schlußhymne, deren Anfang hier  auch in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird.

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