Bewegt sich bei der konformen Abbildung w=1/z (z=x+iy, w=u+iv) der Originalpunkt in der z-Ebene auf einem Kreis, der nicht durch den Ursprung geht, so trifft das bekanntlich auch für den Bildpunkt in der w-Ebene zu. Man spricht deshalb in diesem Zusammenhang auch von "Kreisverwandtschaft". Gewöhnlich wird nicht untersucht (obwohl es naheliegt), wie sich der Bildpunkt verhält, wenn der Originalpunkt statt einer kreisförmigen eine andere gekrümmte Bahn beschreibt, und welche weiteren Kurvenverwandtschaften eventuell dadurch sichtbar werden.

Dies soll im folgenden anhand einiger ausgewählter Beispiele geschehen.



Als erstes bewege sich der der Originalpunkt auf der Hyperbel mit der Gleichung y=a/x, a>0. Setzt man in die für die Abbildung w=1/z gültigen Transformationsformeln (1)
http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/term1.pnghttp://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/term2.png
a/x für y ein und eliminiert x, so ergibt sich für die Bildkurve:

a (u² + v² )² = - u v.

Dies ist die Gleichung einer Lemniskate, einer im 2. und 4. Quadranten schräg liegenden "Acht". Fig. 1 zeigt sie zusammen mit der erzeugenden Hyperbel für a=1/4:


http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/fig1.gif

Hyperbel und Lemniskate sind demnach über die Abbildung w=1/z ebenso miteinander verwandt wie den Ursprung meidende Kreise der z- und w-Ebene.

Auf der Suche nach einem weiteren Kurvenpaar mit dieser Eigenschaft lassen wir nun den Originalpunkt in der z-Ebene auf einer Parabel wandern, die symmetrisch zur imaginären Achse verläuft. Folgt sie der Gleichung y=ax² +b, dann ergibt dies zusammen mit (1) nach Einsetzen von y und Elimination von x:

a u² + b (u² + v² )² + (u² + v² )v = 0,

oder nach Einführung von Polarkoordinaten mit u = r cosφ, v = r sinφ:

b r² + sinφ · r + a cos² φ = 0.

Die Lösung dieser quadratischen Gleichung,

http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/loes.gif

wird bei Wahl des Minuszeichens und für 4ab = -1     (2)
zu

r = 2 a (sinφ + 1)

und beschreibt eine Kardioide. Dies zeigt sich beispielsweise an der Parabel mit der Gleichung y=x²/3-3/4, welche die Bedingung (2) erfüllt, vgl. Fig. 2:

http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/fig2.gif

Ersetzt man in der Bahngleichung des Originalpunktes das Minuszeichen durch ein Pluszeichen, so daß (2) nicht mehr erfüllt ist, dann liefert die veränderte Parabel mit y=x²/3+3/4 eine Bildkurve, die an einen Tropfen oder ein Blatt erinnert (Fig. 3):

http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/fig3.gif

Ihre Gleichung lautet

9(u² + v² ) + 12(u² + v² )v + 4u² = 0 ,

und sie scheint keinen besonderen Namen zu haben.

Da Kreis, Hyperbel und Parabel Kegelschnitte sind, betrachten wir abschließend aus dieser Familie als Originalkurve die Ellipse mit dem Mittelpunkt im Ursprung und den Halbachsen a=1, b=1,25. Sie folgt der Gleichung

25x² + 16y² = 25,

während sich für die Bildkurve die Gleichung

25u² + 16v² = 25(u² + v²)

ergibt.

Aus ihr ist ersichtlich, daß sich der Bildpunkt nicht auch auf einer Ellipse bewegt, doch zeigt Fig. 4, daß die Bildkurve von der Ellipsenform nur wenig abweicht. (Zum Vergleich ist eine richtige Ellipse mit den gleichen Halbachsen eingezeichnet.)

http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/fig4.gif

Die ellipsenähnliche Kurve in Fig. 4 gehört zu den "spirischen Linien des Perseus". Diese entstehen beim Schnitt einer Ebene mit einem Torus. [1]

*


Weiter entfernt von der Ellipse ist die Bahn des Bildpunktes, wenn sich der Originalpunkt wie in Fig. 5 auf der als Versiera (auch "Locke") der Maria Agnesi bezeichneten Kurve [2] mit der Gleichung y=1/(1+x²) bewegt.

http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/matroid/img/fig5.gif

Die Bildkurve folgt der Gleichung

(u² + v²)³ + [(u² + v²)² + u² ]v = 0

und erinnert durch ihre nahezu geradlinigen Mittelteile an den aus Strecken und Halbkreisen zusammengesetzten Rand der Aschenbahn einer Sportanlage. Ich nenne sie deshalb "Stadionkurve".

Literatur:
[1] Kuno Fladt, Analytische Geometrie spezieller ebener Kurven, Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 1962, S. 265 f.
[2] N. M. Günter / R. O. Kusmin, Aufgabensammlung zur höheren Mathematik, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1978, Bd. I, S. 9, Nr. 124 und S. 79, Nr. 368.

http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/t/pix.gif

 

 

Re: Kurvenverwandtschaft bei der konformen Abbildung w=1/z
von Spock am Fr. 20. Juni 2003 19:53:32


Komplex Faszinierend, Hans-Juergen,
mal eine interessante andere Betrachtung von Kardoide, Lemniskate und co.

Und Danke für die "Stadionkurve", ich wusste bisher nicht, daß ich auf der "Locke einer Maria" laufe, wenn ich dort meine Runden drehe, :-)

Gruß
Juergen


Re: Kurvenverwandtschaft bei der konformen Abbildung w=1/z
von Zahlenteufel am Sa. 21. Juni 2003 15:35:55


Da kann ich mich Juergen nur anschließen, ein wirklich interessanter Artikel.
Ich habe schon Probleme die "Hexe der Agnesi" zu erkennen, aber bei der Locke setzt meine Phantasie aus. Maria Agnesi muss eine sehr interessante Frisur gehabt haben.

Gruß
Christoph


Re: Kurvenverwandtschaft bei der konformen Abbildung w=1/z
von scorp am Sa. 21. Juni 2003 19:01:31 http://www.morphion.de


Hallo Hans-Juergen,
ein wirklich schoener, aufschlussreicher und gut zu lesender Artikel. Hat mein Interesse geweckt :)

Viele Gruesse,
/Alex


Re: Kurvenverwandtschaft bei der konformen Abbildung w=1/z
von Hans-Juergen am Sa. 21. Juni 2003 19:47:34 http://www.hjcaspar.de/hpxp/anfang.htm


Hallo Christoph,

interessant, daß Du das Wort "Hexe" (in Anführungsstrichen) im Zusammenhang mit der Versiera erwähnst. Wahrscheinlich weißt Du mehr darüber als die meisten, die das hier lesen, und ich erlaube mir, es ein wenig weiter auszuführen.

"Versiera" kommt vom Lateinischen "vertere" = (sich) wenden. Vermutlich in böser Absicht bezeichnete jemand die Kurve als "avversiera", was auf deutsch "des Teufels Weib" bedeutet. Maria Agnesi schrieb das erste vollständige Lehrbuch über die damals noch neue Infinitesimalrechnung, und bei seiner Übersetzung ins Englische wurde aus "avversiera" das englische "witch", auf deutsch "Hexe". Das konnte in der damaligen, von Aberglauben und Hexenwahn geprägten Zeit für die Autorin geführlich werden, wurde es aber zum Glück nicht, doch der falsche Name blieb:

Bild

An Maria Agnesis Frisur
war nichts Bemerkenswertes -

Bild

bemerkenswert war die Frau selbst. Sie beherrschte nicht nur mehrere lebende und antike Sprachen, sondern war auch eine in europäischem Maßstab hoch anerkannte Mathematikerin, Mitglied der sonst nur Männern vorbehaltenen Akademie von Bologna und Professorin an der dortigen Universität.

Auf der Höhe ihrer wissenschaftlichen Karriere brach sie diese ab und wandte sich in den weiteren 50 Jahren ihres Lebens mit großem persönlichen Engagement der Armenpflege zu – eine Art Mutter Theresa, sozusagen.

Im Internet findet man zahlreiche Beiträge über Maria Agnesi, von denen sich manche in kleineren Details gegenseitig widersprechen, was dem Ruhm dieser außergewö hnlichen Frau jedoch keinen Abbruch tut.

Mit herzlichen Grüßen, Hans-Jürgen.


(Bildnachweis: die "Witch of Agnesi" fand ich im Internet hier: http://orthopraxia.files.wordpress.com/2010/06/agnesiyellow-iii.jpg. Das Porträt von M. A. stammt von der Wikipediaseite über sie und ist gemeinfrei.)

Nachtrag:
Der vorstehende Artikel, im Kern bereits hier [3] veröffentlicht und etwas erweitert hier [4], hat Herrn Professor Joachim Engel offenbar so gefallen, dass er einen großen Teil des Textes, der Rechnungen und Figuren mit ein paar unbedeutenden stilistischen Veränderungen in sein Buch Komplexe Zahlen und ebene Geometrie auf S. 133ff ohne Quellenangabe übernahm.
Das sieht mir sehr nach einem PLAGIAT aus!
[3] PM 4/42. Jahrgang 2000, S. 179-180 (PM: Praxis der Mathematik in der Schule)
[4] http://matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/article.php?sid=456 (2003)
Anmerkung: das genannte Buch erschien erst einige Jahre sp ter, vgl. den Copyright-Vermerk "©2009" auf dieser Seite.

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