Wohlgefallen – was ein einzelner Buchstabe vermag

Seit meiner Jugendzeit als Konfirmand kenne ich den Vers 14 im Kapitel 2 des Lukasevangeliums in dieser Form:
"Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.", (1)
und so steht er auch in der Lutherbibel von 1962.

Ab 1984 wurde es wegen einer damals neuen Übersetzung nach Luther in der evangelischen Kirche üblich, den Vers so zu lesen:
"Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens." (2)

Wie kam es zu diesem Wandel?

Den griechischen Originaltext des Neuen Testaments gibt es in zwei verschiedenen Fassungen:
A) δόξα ἐν ὑψίστοις θεῷ καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη ἐν ἀνθρώποις εὐδοκία und
B) δόξα ἐν ὑψίστοις θεῷ καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη ἐν ἀνθρώποις εὐδοκίας.

Der Unterschied besteht in einem Buchstaben: dem ς (Sigma) am Ende von B), das bei A) fehlt.

εὐδοκία (in lateinischer Umschrift: eudokia) ist Nominativ und bedeutet einfach nur "Wohlgefallen".
εὐδοκίας (eudokias) dagegen ist Genitiv. So lautet B), wörtlich übersetzt: "... und den Menschen des Wohlgefallens".
Wessen Wohlgefallen gemeint ist, steht nicht in B). Eingefügt wurde im Deutschen das Wort "seines", und man bezieht es auf Gott.

Die Übersetzung (2) verändert den Sinn von (1): der Friede wird nicht mehr allen Menschen verheißen, sondern nur bestimmten: denen, die Gott wohlgefällig sind. Die vorgenommene Änderung wird damit begründet, dass B) auf älteren überlieferten Schriften beruht, die Luther noch nicht kannte.

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