Schatten über dem Glauben

Erst vor ein paar Jahren, nach meiner Pensionierung als Mathematik- und Physiklehrer, kam ich mit dem christlichen Glauben in engere Berührung. Seither gehe ich regelmäßig jeden Sonntag in den Gottesdienst unserer evangelischen Gemeinde und arbeite in ihr mit. Sehr anziehend wirkt auf mich die Person des Pastors, der seine Predigten nicht vom Manuskript abliest, sondern frei und dem Publikum zugewandt vorträgt. Man spürt bei ihm, daß er glaubt, was er sagt, und danach lebt. Die Predigten sind stets bibelbezogen, und sehr oft fühle ich mich durch sie geistig-geistlich und seelisch gestärkt.

Eines der seltenen Beispiele, bei denen dies nicht der Fall ist, war die Predigt vom letzten Sonntag. Ihr lag die Geschichte vom Gottesurteil des Propheten Elia auf dem Berg Karmel zugrunde, 1. Könige 18, 21-39. Dort wird berichtet, daß 450 Priester des Baal auf der einen Seite und Elia auf der anderen je einen Altar mit einem Opfertier darauf erbauten, der nicht von Menschen, sondern vom jeweiligen Gott, an den geglaubt wurde, entzündet werden sollte. Nachdem die Baalspriester, die den Versuch als erste unternahmen, einen halben Tag lang mit Gebeten und rituellen Handlungen nichts erreichten, gelang es Elia, der seinen Altar sogar noch ausgiebig mit Wasser übergossen hatte, nach kurzem Gebet, das "Feuer des Herrn" vom Himmel zu holen und damit die Überlegenheit seines Gottes zu demonstrieren.

Im Zusammenhang damit erwähnte unser Pastor, ohne es ausführlich zu zitieren, das 20. Kapitel im 2. Buch der Könige. Dort wanderte, als Zeichen für den todkranken König Hiskia, daß Gott ihn wieder gesund machen werde, ein Schatten, anscheinend an einer Treppe, entgegen seiner natürlichen Abwärtsrichtung plötzlich zehn Stufen aufwärts. Auch von diesem zweiten Beispiel für Gottes Macht zeigte sich der Pastor sehr angetan und fügte sinngemäß hinzu: "Natürlich wird Gott nicht für einen Augenblick die Erddrehung verändert haben; vielleicht hat er es mit Hilfe der Lichtbrechung gemacht." Diese naturwissenschaftlich angehauchte Deutung empfand ich als nicht besonders glücklich.

Zu Hause stellte ich fest, daß ich mich mit dem Gedanken an eine Treppe geirrt hatte. In der revidierten Luther-Übersetzung von 1962 ist vom "Zeiger des Ahas" die Rede, der nicht weiter erklärt wird, und von Stufen, während die revidierte Fassung von 1984 eine Sonnenuhr mit Strichen nennt.

Abgesehen von diesem Unterschied in der Ausdrucksweise, der wieder einmal zeigt, wie schwer es sein kann, biblische Texte ins Deutsche zu übertragen, frage ich mich, warum solche göttlichen "Zaubertricks" heute noch den Gottesdienstbesuchern vorgesetzt werden.

Predigten sollen den Glauben derer festigen, die bereits gläubig sind, und ihn denen nahebringen, die noch nicht viel von ihm wissen. Mit dem letztgenannten Beispiel dürfte dieses Ziel wohl kaum erreicht werden.

Selber brauche ich solche "Bekräftigungen" der Allmacht Gottes jedenfalls nicht. Ich weiß ja, bin davon überzeugt, daß Er die ganze Welt gemacht hat und tun kann, was Er will. Wozu bedarf es dann noch der Schilderung einzelner "Gottesbeweise", die Menschen von vor tausenden von Jahren beeindruckt haben mögen? Dabei ist noch nicht einmal sicher, ob die beschriebenen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben.

Einzelne, aber auch ganze Gruppen neigen nicht selten dazu, sich etwas auszudenken und solange weiterzuerzählen, bis es allgemein geglaubt wird. Viele Legenden in der Antike entstanden auf diese Weise, zum Beispiel, daß Alexander der Große vom obersten griechischen Gott Zeus abstammte, den es nach christlicher Auffassung nie gab. Oder ein Fall aus dem letzten halben Jahrtausend: Martin Luther mit seinen 95 Thesen. Gewiß verfaßte er sie, aber daß er sie an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, ist reine Erfindung. Dennoch wurde diese Szene in zahllosen Büchern und Predigten immer wieder als Wahrheit ausgegeben, auch im Film. "Hammerschläge, die die Welt erschütterten", hieß es dazu unter anderem. Auch die seinerzeit verbreitete Geschichte von Friedrich dem Großen und dem Müller von Sanssouci gehört dazu. Schön hört sie sich ja an, aber sie stimmt nicht! (Johann Peter Hebel verwendete sie dichterisch, was man hier nachlesen kann - "König Friedrich und sein Nachbar".)

Die Reihe legendärer Phantasieprodukte, bewußter Fälschungen und propagandistisch gefärbter Geschichtsklitterungen ließe sich beliebig fortsetzen. Dabei kehren bestimmte Motive in verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen immer wieder. Vieles, was an Außergewöhnlichem und Wundersamem verbreitet wird, ist in meinen Augen recht primitiv. Es appelliert an abergläubische Gefühle, an Wunschdenken, Prestigesucht und weitere Schwächen.

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Einiges aber, das ebenfalls unwahrscheinlich und märchenhaft erscheint, ist von anderer Qualität. Es hat eine bemerkenswerte, das Reale übersteigende, symbolische Kraft und muß deshalb höher geachtet werden.

Dazu rechne ich die Stelle in der Bibel, wo erzählt wird, daß Petrus dem Heiland auf dem Wasser entgegengeht, Matthäus 14, 22ff. Anfangs ist Petrus voller Vertrauen auf den Herrn und schafft diesen seltsamen Gang ein ganzes Stück. Dann aber, kurz vor dem Ziel, verläßt ihn der Glaube, und er beginnt zu sinken. In letzter Not ruft er Jesus zu: "Rette mich!", was dieser auch tut. Hier spiegelt sich menschliches Verhalten in einer Krisensituation wider, wie sie jedem von uns begegnen kann. Ich habe einen guten Freund, dem es familiär und beruflich seit längerem sehr schlecht geht. Er fand, als er sich schon fast aufgegeben hatte und sogar daran dachte, sich umzubringen, Trost und Hilfe bei Gott und Jesus.

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Zurück zum Anfang, zur Überschrift. Es gibt Schatten, die auf den Glauben fallen, aber sie stören mich nicht. Ich weiß im großen und ganzen, wie sie entstehen und worauf sie beruhen. Sie können den Kern des Glaubens, die Wahrheit, die in ihm steckt, nicht wirklich verdunkeln. Entdecken läßt er sich an vielen Stellen der Bibel.


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