Über den Urknall und das Paradies

Als vor rund achtzig Jahren die Urknall-Theorie aufkam, nannte ihr Begründer[1] das anfangs sehr kleine Universum "kosmisches Ei". In unserer Zeit ist dazu hier [2] von einer Pampelmuse die Rede. Selber bevorzuge ich einen Apfel. Er schmeckt einfach besser, und wenn Eva dem Adam einen Apfel gab, hätten wir sogar einen Zusammenhang zwischen dem Urknall und dem Paradies [3], woran wohl bisher noch niemand dachte.

Die beiden strebten nach Erkenntnis, die ihnen nicht zustand, und wurden dadurch unglücklich. Die überlieferte Paradiesgeschichte ist ein gedankliches Bild, eine Allegorie, die sich in der Neuzeit wenigstens dreimal mit führenden Mathematikern in Verbindung bringen ließ:

Farkas (auch Wolfgang) Bólyay bemühte sich jahrzehntelang vergeblich um das Parallelenaxiom von Euklid und schrieb dazu einen bewegenden Brief an seinen Sohn Janos, in dem er ihn beschwor, sich nicht weiter damit zu beschäftigen. Zwischen Leibniz und Newton gab es einen unversöhnlichen Prioritätsstreit in der Infinitesimalrechnung, in den sich auch andere führende Mathematiker hineinziehen ließen. Georg Cantor, der Schöpfer der Mengenlehre, wurde bei seinen Forschungen über das Unendliche depressiv und mußte mehrmals in stationäre psychische Behandlung; am Ende litt er unter regelrechten Wahnvorstellungen.

Übertriebenes Streben nach Erkenntnis, auch Anerkennung, nahm den daran Beteiligten den inneren Frieden, das harmonische Verhältnis zu ihrer Umgebung, den Mitmenschen und zu Gott. Es schmerzte sie und ruinierte Teile ihres Lebens.

In der Physik finden wir heutzutage Ähnliches: in meinen Augen nutzlose Anstrengungen zur Beantwortung der beiden Fragen nach dem Anfang und Ende der Welt. Der vielfach angenommene Urknall liegt zu weit weg in der Vergangenheit (wobei betont wird, daß bei ihm die physikalischen Gesetze keine Gültigkeit mehr haben!); und wie sich die Welt bis in die fernsten Fernen weiter entwickeln wird, gehört ins Reich der Spekulation und Phantasie.*) Bei all' diesen Bemühungen spielt persönlicher Ehrgeiz eine nicht unbeträchtliche Rolle. Wie viele Forscher auf diesem Gebiet mag es wohl geben, die an einen von ihnen erzielten, entscheidenden Durchbruch glaubten, der dann durch andere aufgehoben, zerstört wurde und sie selber in tiefe Verzweiflung stürzte.

Dem "Baum der Erkenntnis" sich aus Neugier und mangelndem Respekt vor dem Geheimnisvollen zu sehr zu nähern, ist nicht ungefährlich. Auch wir selbst erleben manchmal, daß es nicht gut ist, alles zu wissen bzw. wissen zu wollen, und es wäre uns im Nachhinein lieber, wir hätten bestimmte Details nicht erfahren.**) Berücksichtigt man dies, dann erfüllt Gottes Verbot für uns eine Art geistiger Schutzfunktion.

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In der Bibel geht es übrigens nicht um wissenschaftliche Fragestellungen, die die Juden, anders als einige ihrer Nachbarvölker, nicht interessierten. Was sie bewegte, war das von Gott außer den Naturgesetzen geschaffene Moralgesetz, das in unserer Zeit zu wenig Beachtung findet.

So wird der Adam und Eva verbotene Baum  häufig verkürzt nur "Baum der Erkenntnis" genannt. Nimmt man hinzu, daß sein Name vollständig "… von Gut und Böse" lautet, kann es sein, daß damit zum Ausdruck gebracht werden soll: Gott will allein festlegen, was gut und böse ist (kanonisiert durch seine später erlassenen Zehn Gebote), und er will nicht, daß der Mensch darüber bestimmt. Die Geschichte lehrt: Wenn das versucht wurde, resultierte daraus vielfach großes Leid für einzelne Gruppen wie für ganze Völker.

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*) Was ich selbst von den Grübeleien über das Universum halte, s. hier.
**) Gerade bei Mathematikern ist das öfter der Fall. Jemand hat eine reizvolle, nicht triviale Aufgabe gestellt. Ein anderer quält sich eine Weile erfolglos damit herum und bittet schließlich den Aufgabensteller um einen kleinen Lösungshinweis. Diesen erhält er und stellt dabei fest, daß die Aufgabe im Grunde genommen nicht schwer ist. Mit mehr Zeit und Geduld wäre er vermutlich selber auch darauf gekommen und ärgert sich nun über die unnötig erbetene Hilfe.

[1] Georges Lemaître (Wikipedia). Der englische Name für Urknall (Big Bang) stammt von Fred Hoyle, einem eigenwilligen britischen Mathematiker und Astronomen.
[2] http://www.zeit.de/1999/32/199932.s-kosmologie_.xml/seite-1
Oftmals wird das kosmische Ei sehr viel kleiner, nämlich punktförmig, angenommen, wobei die Frage, was ein Punkt überhaupt sein soll, seit Euklid bis heute nicht ausreichend geklärt ist. Nett ist hierzu der Satz: "Ein Punkt ist genau das, was der intelligente, aber harmlose, unverbildete Leser sich darunter vorstellt." (Oskar Perron in Nichteuklidische Elementargeometrie der Ebene, Stuttgart 1962, zitiert bei Wikipedia unter dem Stichwort "Punkt".) - Vgl. auch (von mir): Was ist ein Punkt?
[3] John Milton (1608-74) schrieb ein berühmtes, langes Gedicht mit mehr als zehntausend Versen über die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies: "Paradise Lost" (Das verlorene Paradies). Das englische Original [4] ist, wie auch die deutsche Übersetzung, wegen des barocken und weitschweifigen Stils nicht ganz leicht zu lesen. Eine ausführliche Inhaltsangabe in Prosa gibt es hier.
Aus ihr ist zu erkennen, dass der Dichter über das o. g. Thema weit hinausgeht, indem er auch auf andere Bibelstellen zurückgreift und eigene Überlegungen hinzufügt.
[4] wiedergegeben in "The John Milton Reading Room" mit zahlreichen versteckten Anspielungen, die beim Anklicken erklärt werden

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