Über Judas

Unser Pastor sagte, dass Judas im Auftrag Gottes gehandelt habe, damit Kreuzigung und Auferstehung möglich wurden. Judas habe Jesus nicht nach eigenem, freien Willen verraten, sondern sei gewissermaßen ein Werkzeug Gottes gewesen, um Seinem Heilsplan zu dienen. Denselben Gedanken fand ich im Internet auch noch hier.

Das entlastet, wenn es wahr ist, Judas von Schuld. Trotzdem endete er schrecklich. – Gegen die ihm zugewiesene Rolle konnte er sich nicht wehren und seinem Schicksal nicht entfliehen, ähnlich tragischen Gestalten der antiken griechischen Mythologie. Lange Zeit war er als "Christusmörder" verschrien. Dass die Römer es waren, die Jesus auf ihre grausame Weise töteten, wird in Bibelauslegungen oft nur ungenügend hervorgehoben. In kirchlichen Texten und Veranstaltungen, zum Beispiel bei Passionsspielen, wurden und werden teilweise bis heute die Juden der Ermordung Jesu bezichtigt, was in verschiedenen Ländern, auch dem unseren, immer wieder furchtbare Folgen für sie hatte. Judas war und ist bei alledem eine Hassfigur. Er tut mir leid. –

Jesu Reaktion auf den Verrat war zwiespältig. Einerseits soll er gesagt haben: "Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre." (Mt26,24); zum anderen scheint der Heiland die Tat selbst begrüßt zu haben: "Da Judas nun hinausgegangen war, spricht Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm." (Joh13,31). Das klingt erleichtert und triumphierend.

Auch wie Judas starb, wird in der Bibel unterschiedlich wiedergegeben: in Mt27,3-5 heißt es, er habe sich in Reue und Verzweiflung aufgehängt, und in Apg1,18, dass er auf einem Acker einen tödlichen Unfall erlitt.

Die Jerusalemer Priester, die Jesus nach dem Leben trachteten, ließen ihn nicht am Tage in aller Öffentlichkeit verhaften (Mk14,48-49). Sie befürchteten im Hinblick auf die römischen Besatzer Unruhe im Volk, das wenige Tage zuvor den Heiland begeistert und erwartungsvoll empfangen hatte. Dabei denke ich, dass die überlieferten dramatischen Details bei der nächtlichen Gefangennahme im Garten von Gethsemaneh – Judaskuss, abgeschlagenes und wieder angesetztes Ohr, unbekannter fliehender nackter Mann (Mk14,50-51; Lk22,50-51) – vielleicht nur ausgedacht sind und auf orientalischer Erzählfreude beruhten. Im Johannes-Evangelium (Joh18,5) küsst Judas Jesus nicht.

Nachtrag:
In diesem Blog widerspricht ein Kommentator dem eingangs erwähnten Pastor. Er meint, wenn das, was dieser sagte, stimmte, wäre Gott ein "Puppenspieler", und wir alle wären Seine willenlosen Marionetten. Weiter unten ist es ihm unerklärlich, dass so viele "an sich sehr rechtgläubige Christen" Mitleid mit Judas haben. Er nennt ihn Dieb und Verräter, vermutet ihn in der Hölle und zitiert Dante, der Judas in der Göttlichen Komödie dahin verbannnte, wo sie am allertiefsten ist: in den Eissee Cocytus, vgl. Inferno, neunter Kreis, Gesänge XXXII und XXXIV. – Ausführliche Beschreibung der gesamten Göttlichen Komödie; Bilder von Dantes Hölle

Weitere Weblinks:
Judas Iskariot (Wikipedia)     Betrachtung und Wertung des Judas im Laufe der Zeit – ein Artikel aus Österreich
Judas und der Satan – aus dem Amerikanischen. Bemerkenswert u. a.: Abschnitt "Entsprechend Seinem souveränen Willen".

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