Aus: http://www.welt.de:80/kultur/article153710/Im_Anfang_war_der_Logos.html                             
(Kopie der dortigen Seite ohne das ein anderes Thema betreffende Bild)

Im Anfang war der Logos

Von Konrad Adam 18. September 2006, 00:00 Uhr

Denken und Sprechen: Der Papst hat ins Zentrum seiner umstrittenen Regensburger Rede die Vernunft gestellt. Die Erbschaft der griechischen Kultur ist bei Benedikt XVI. ständig präsent.

Ins Zentrum der Rede, mit der er einen historisch gewachsenen Unterschied zwischen Christentum und Islam markierte, hat Benedikt XVI. das Wort Vernunft gestellt, auf Griechisch: Logos. Dass der Logos zum Ahnherrn von Hauptwörtern wie Logik und von Eigenschaftswörtern wie logisch geworden ist, lässt schon beim flüchtigen Blick auf seinen gewaltigen Bedeutungsumfang schließen.

Als der berühmte Doktor Heinrich Faust, dessen abenteuerliches Leben Goethe zum Drama verarbeitet hat, sich das Johannes-Evangelium vornimmt, um es ins Deutsche zu übertragen, beginnt die Schwierigkeit bereits beim ersten Satz. Der nämlich lautet: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos“. Luther hat Logos mit „Wort“ übersetzt; aber das genügt Faust nicht. An Stelle von „Wort“ versucht er es der Reihe nach mit „Sinn“, „Kraft“ und „Tat“, ohne damit zufrieden zu sein; Logos meint ja viel mehr als das. Wollte man den vielen unzureichenden Übersetzungsversuchen einen weiteren hinzuzufügen, könnte man sagen: Im Anfang war die Sprache. Denn auch das, die Fähigkeit, sich artikuliert auszudrücken, ist mit Logos gemeint: vor allem das sogar.

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Denkens, hat der deutsch-englische Philosoph Ludwig Wittgenstein einmal gesagt. Im Deutschen sind diese Grenzen ziemlich eng gezogen, enger zumindest als im Griechischen, dessen übergroßer Formenreichtum es erlaubt, das Verhältnis zwischen den Satzgliedern genauer zu markieren als in jeder anderen europäischen Sprache. Das Gegenbeispiel ist das Englische, das ja vor allem deshalb zur modernen Weltsprache avanciert ist, weil es aufs Konjugieren und Deklinieren weitgehend verzichtet. Das Griechische bietet in dieser Hinsicht mehr. Es verfügt neben dem Aktiv und dem Passiv über ein drittes Genus, das Medium, das den Rückbezug auf das Subjekt des Satzes deutlich macht: „politeuo“ heißt „Bürger sein“, während „politeuomai“ bedeutet: „Sich als Bürger betätigen“.

Die Entstehung der Grammatik

Zusätzlich zum Indikativ und zum Konjunktiv kennt das Griechische einen weiteren Modus, den Optativ, der Wünsche oder Möglichkeiten zum Ausdruck bringt. Neben den drei klassischen Tempora, die zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unterscheiden, gibt es im Griechischem drei weitere, die allesamt klarstellen, wie eine Handlung zu betrachten ist, als dauerhafter Zustand (Präsens), als abgeschlossener Vorgang (Aorist) oder als Resultat (Perfekt). Auf diese Art stellt das griechische Zeitwort eine Handlung genauer dar als das deutsche Verbum.

Der große Formenreichtum dieser Sprache hat früh den Wunsch aufkommen lassen, Ordnung zu schaffen: ein Wunsch, der sich angesichts der griechischen Begabung zu systematischer Erkenntnis leicht erfüllen ließ. So entstand zum ersten Mal das, was wir bis heute eine Grammatik nennen; dem Wort und der Sache nach ist sie eine griechische Erfindung, erweitert, aber keineswegs entbehrlich gemacht durch die moderne Linguistik. Der Glaube, dass der Sprachgebrauch Gesetzen unterliegt, die sich erkennen und formulieren lassen, geht ebenso wie die Überzeugung, dass die Entschlüsselung dieser Gesetze dabei hilft, dem Wesen der Dinge auf die Spur zu kommen, auf die Griechen zurück.

Beides, ihr Formenreichtum und ihre Systematik, unterscheidet die griechische von den anderen Sprachen, die damals, vor zweieinhalb Tausend Jahren, im östlichen Mittelmeerraum in Umlauf waren. Und beides begründete das starke Selbstbewusstsein, das die Griechen gegenüber den von ihnen so genannten Barbarenvölkern an den Tag legten. Barbaren, das waren die Leute, die sich nicht nur anders, sondern auch schlechter, ungepflegter, weniger differenziert ausdrückten als die Griechen, die eben „bar-bar“ machten, wo sie selbst sprachen.

Der Anfang der Philosophie

Das griechische Talent zur Systematik hat allerdings nicht nur die Entstehung der Grammatik begünstigt, sondern auch bei den Anfängen der Philosophie Pate gestanden. Mit seinen Hinweisen auf das, was die Katholische Kirche den Griechen zu verdanken hat und was ihr, umgekehrt, im Zuge der Enthellenisierung verloren gegangen ist, hat der Papst an diese Tradition erinnert. Auch wer des Griechischen nicht mächtig ist, wird sich eine Vorstellung davon bilden können, wie der bestimmte Artikel, den diese Sprache dem Lateinischen voraus hat, dazu einlädt, sich das Allgemeine – das Sein, das Werden, das Vergehen, die Vernunft – als etwas Bestimmtes vorzustellen und so den Glauben an eine zweite Wirklichkeit zu nähren, die sich hinter der ersten, vordergründigen, erfahrbaren verbirgt.

Die Suche nach dieser zweiten, dem Denken und nur dem Denken zugänglichen Wirklichkeit begann mit Männern wie Thales und Anaximander, die man zusammen mit ein paar anderen ihrer Herkunft nach die ionischen Naturphilosophen zu nennen pflegt, und kam mit Platon und dessen Schüler Aristoteles ans Ziel. Der Gräzist Bruno Snell, der den sprachlichen Bedingungen dieser ungewöhnlichen Entwicklung nachgegangen ist, ist der Ansicht, dass sich das Verhältnis von Sprache und wissenschaftlicher Begriffsbildung überhaupt nur im Griechischen beobachten und angemessen verstehen lasse, „da nur hier die Begriffe der Sprache organisch entwachsen sind: Nur in Griechenland ist das theoretische Bewusstsein selbstständig entstanden, nur hier gibt es eine autochthone wissenschaftliche Begriffsbildung – alle anderen Sprachen zehren hiervon, haben entlehnt, übersetzt, das Empfangene weitergebildet“.

Unmengen an Bindewörtern

Diese Feststellung lässt sich auch allgemeiner fassen. Die Griechen waren, zumindest in Europa, das erste Volk, für das Sprache erkennbar mehr war als ein notweniges, alltägliches und deshalb ziemlich anspruchsloses Instrument zum Zwecke der Verständigung. Jeder griechische Satz bringt zusätzlich zu seinem Informationsgehalt Stimmungen und Absichten zum Ausdruck, enthält Ober- und Untertöne, arbeitet mit Vor- und Rückverweisen, die über das bloß Mitgeteilte hinausgehen. Entscheidend dafür ist der Partikelreichtum, die Unmenge von kleinen und unscheinbaren, aber schwer zu übersetzenden Bindewörtern, die jeder Aussage ein spezifisches Gewicht verleihen.

Ein richtig gebauter Satz lässt im Griechischen von Anfang an erkennen, ob man es mit einer Feststellung oder einer Erläuterung, einer Erweiterung, einer Begründung oder einem Gegensatz zu tun hat. Durch den Gebrauch von Füllwörtern wie „nun wohl“, „nicht gar“ oder „schließlich doch“ kann dieser Nuancenreichtum im Deutschen zwar imitiert, aber niemals nachvollzogen werden, weil unsere Sprache nicht über dasselbe Repertoire an logischen Bindemitteln verfügt.

Es war ihr Reichtum an Formen und Nuancen, der die Überlegenheit der griechischen Sprache begründet und ihr zum Sieg über ihre zahlreichen Konkurrentinnen verholfen hat. Zur Zeit von Christi Geburt war das Griechische beides zugleich, Kultursprache aller Gebildeten und Verkehrssprache in der gesamten östlichen Reichshälfte, die neben Griechenland auch Ägypten, Syrien, Kleinasien und das nördliche Afrika umfasste. In dieser Form hieß sie „Koine“, die Allgemeine. Sie war so allgemein, dass alles, was auf weitere Verbreitung rechnete, in ihr verfasst sein musste, das Neue Testament oder die Schriften der Kirchenväter genauso wie das byzantinische Recht.

Erst sehr viel später, mit dem Aufkommen des Islam, dessen aggressivem Sendungsbewusstsein diese alt und müde gewordene Kultur nicht mehr viel entgegenzusetzen hatte, hat das Griechische seine Funktion als universelles Verständigungsmittel verloren. Es war die erste und wohl auch folgenreichste Niederlage der abendländischen, griechisch und christlich geprägten Kultur gegen den militant vorgetragenen Herrschaftsanspruch aus dem Osten. Die Auseinandersetzung erstreckte sich über Jahrhunderte und war mit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 längst noch nicht zu Ende. Sie ist es bis heute nicht, wie der Streit beweist, den der Papst dadurch entfachte, dass er an die Erbschaft der griechischen Kultur erinnerte und deren kostbarstes Einzelstück, die Hochschätzung der Vernunft.

Gekürzter und leicht veränderter Vorabdruck aus dem Buch „Die alten Griechen“, das Ende der Woche bei Rowohlt-Berlin (192 S., 16,90 €) erscheint.

Nicht Bestandteil des obigen Artikels: Links zu Wikipedia-Seiten über die Entwicklung der griechischen Sprache bis heute
http://de.wikipedia.org/wiki/Katharevoussa
http://de.wikipedia.org/wiki/Dimotiki
http://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Sprachfrage

Zurück zur Seite Über die griechischen Wörter doxa und logos