Über Rabbi Stephen Fuchs' Artikel*)
"Sollen Christen Juden bekehren?"

Der Artikel ist nach meinem Empfinden gut geschrieben: klar gegliedert, mit konkreten Aussagen und einem starken geschichtsbezogenen, persönlichen Engagement. In ihm werden einige wesentliche Unterschiede zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glauben deutlich.

Gleich am Anfang des Artikels bekennt Rabbi Fuchs und wiederholt es am Ende, dass er stolz darauf ist, ein Jude zu sein. Selber bin ich nicht stolz, ein Christ zu sein; welchen Grund gäbe es dafür? Christen sehen ihre eigene Unzulänglichkeit und Schwäche. Sie betrachten ihren Glauben nicht als Verdienst oder Leistung, sondern als ein Geschenk Gottes.

Rabbi Fuchs zitiert die Erwartungen, die sein Volk zur Zeit Jesu an den Messias hatte und die nicht (alle) in Erfüllung gingen: Das Ende der Unterdrückung der Juden durch die Römer; die Einsetzung eines Nachkommen von König David über ein vereinigtes Israel; die wunderbare Rückkehr der ins Exil Zerstreuten in das Land Israel. Zumindest die erste Erwartung war politischer Natur. Jesus aber kümmerte sich nicht um Politik. Sehr bekannt wurde Sein Wort: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt."

Anhand der Parabel mit den Pfeilen und den Schießscheiben wird unterstellt, dass die Berichte über Jesus, soweit sie prophetischen Ankündungen aus dem Alten Testament entsprechen, Erfindungen seien. Begründung: da die Autoren die alten Schriften genau kannten, passten sie ihre eigene Darstellung jenen einfach nur an.

Diese Ansicht erscheint mir nicht zwingend und ist nicht die einzige Möglichkeit. Ich gehe von folgendem aus:
Jesus kannte die Heiligen Schriften mindestens ebenso gut wie die späteren Autoren des Neuen Testaments. Schon als Zwölfjähriger beeindruckte er damit Schriftgelehrte. Rund zwanzig Jahre später bezog er einige alte Bibelstellen auf sich selbst und nahm sie sich zum Vorbild. In der bedeutsamsten von ihnen1) ist von einem namentlich nicht näher bezeichneten "Knecht Gottes" die Rede. Dieser wird von allen verachtet, muß viel leiden und stirbt unschuldig für ihre Sünden.2)

Das Leben und Wirken Jesu Christi, sein schuldloses Leiden und Sterben waren bestimmt von Gottes- und Nächstenliebe.3) Menschen, die sich kompromißlos wie er zum Wohle anderer aufopfern und dabei den Tod nicht scheuen, sind selten, aber es gibt sie. Ein Beispiel:


Gedenktafel an der Basilica del Santo in Padua für Maximilian Kolbe:
"Gestorben in Auschwitz am 14.8.1941. Er opferte sein Leben, um einen Familienvater zu retten."

Zu den weiteren Ausführungen des Rabbi sei noch bemerkt:
Bei rituellen Menschenopfern, die es in vielen Kulturen gab und vielleicht heute noch gibt, wurden die betroffenen Menschen gezwungen, sich töten zu lassen; andere entschieden über sie. Jesus dagegen opferte sich freiwillig und aus eigenem Entschluss. In Israel, wo die üblichen Tieropfer im Laufe der Zeit in Verruf geraten waren4), war dies etwas ganz Unerhörtes. Das teilweise zur Routine erstarrte religiöse Leben wurde dadurch in eine neue Richtung gelenkt, die sich nach und nach in vielen Ländern ausbreitete5).

Die Behauptung, dass der Gott Israels kein Menschenopfer verlangt hat, trifft nicht zu. Bei Abraham tat er es. Dieser war, wenn auch schmerzerfüllt und voll schwerer Bedenken, bereit, ein solches Opfer in Gestalt seines eigenen Sohnes zu bringen. Er hätte es auch ausgeführt, wenn Gott ihm nicht in letzter Sekunde in den Arm gefallen wäre. Im übrigen wurde der kleine Isaak, um den es bei dieser makabren Szene ging, gar nicht erst gefragt.

Rabbi Fuchs schreibt einleitend "Ich habe immer versucht, die Religionen anderer zu respektieren." dasselbe versuche auch ich.

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*) http://www.hagalil.com/archiv/2001/04/christentum.htm
1) Jes.53,4-12, entstanden ca. 700 v. Chr. Ein direkter Hinweis auf diese, von Christen als besonders wichtig angesehene Stelle fehlt in dem genannten Artikel.
2) Manche Juden nehmen an, dass mit dem Knecht Gottes das Volk Israel (oder ein Teil davon) gemeint ist.
3) Kleinere Details in der biblischen Überlieferung, die Leser der Heiligen Schrift irritieren und zur Kritik herausfordern können, beruhen offensichtlich auf Erinnerungslücken oder Missverständnissen. Sie berühren nicht den Kern der Aussagen über den Erlöser.
4) Vgl. hier
5) dass dabei oftmals mit Gewalt vorgegangen wurde, wodurch ungezählte Menschen ihr Leben verloren, war unchristlich und ist zu verurteilen; dies wird inzwischen von kirchlicher Seite auch getan. Bei den Juden gab es ebenfalls Perioden religiöser Unduldsamkeit, in denen ganze Völkerschaften, die nicht an Jahwe glaubten, ausgerottet wurden. Hiervon zeugen das Buch Josua und andere Abschnitte des Alten Testaments.

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