Auszug aus:
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Das Genie & der Wahnsinn
WWW.TAGESSPIEGEL.DE (erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 13.01.2008)
13.1.2008 0:00 Uhr
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Seit der Antike gilt die Mathematik
als Bastion der Vernunft und der Sicherheit. Relativismus gibt es nicht: Ein
Satz ist wahr oder falsch, gefochten wird nicht mit Argumenten, sondern mit
Beweisen, und wenn eine mathematische Wahrheit bewiesen ist, so bleibt sie es
auf alle Zeiten. Doch so klar die Spielregeln dieser Wissenschaft, so unklar
ihre Grundlage: Welches ist das Fundament der Mathematik, von dem sie ihre
Sätze ableitet?
Zentraler Begriff in dieser Diskussion ist das Axiom. Axiome sind Grundregeln,
aus denen sich sämtliche Sätze eines mathematischen Teilgebiets streng logisch
ableiten lassen. Per Definition sind Axiome nicht beweisbar, aber sie sollen so
„offensichtlich wahr“ sein, dass sie niemand infrage stellt.
1889 schlug der italienische Mathematiker Giuseppe Peano ein System von fünf
Axiomen vor für die Zahlenlehre, die Arithmetik. Das erste lautet: „0 ist eine
natürliche Zahl“, das zweite: „Jede natürliche Zahl hat genau einen
Nachfolger“. So einleuchtend diese Axiome sind: Wie konnte man sicher sein,
dass es die „richtigen“ sind? Beweisen kann man sie ja eben nicht. Aber eines
ließe sich zeigen (so hoffte man wenigstens): ihre Widerspruchsfreiheit.
Axiome, die einander widersprechen, taugen nichts. Ein Beweis der
Widerspruchsfreiheit wäre so etwas wie ein Legitimationsausweis für ein System
der Axiome.
Der eifrigste Verfechter der Axiomenidee war der deutsche Mathematiker David
Hilbert (1862–1943). Um seine Wissenschaft ein für alle Mal auf ein sicheres
Fundament zu stellen, rief er seine Zunft zur Durchführung eines gewaltigen
Programms auf. Ausgehend von der Arithmetik, sollte ein Gebiet ums andere auf
die Grundlage von Axiomen gestellt und sein ganzer Inhalt logisch darauf
aufgebaut werden. Die Mathematik würde so zum formalen System: ein Spiel mit
strengen Regeln, die festlegen, welche Schritte erlaubt sind und welche nicht –
vergleichbar mit Schach.
In einer Grundsatzrede am Internationalen Mathematikerkongress von Paris rief
Hilbert im Jahr 1900 seine Kollegen zum Beweis der Widerspruchsfreiheit des
arithmetischen Axiomensystems auf: „Überzeugung von der Lösbarkeit eines jeden
mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir
hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst
sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik gibt es kein
Ignorabimus!“ („Ignorabimus“ bedeutet „Wir werden nicht wissen“.)
Hilbert hat das Problem unterschätzt. Gewiss, bei einem übersichtlichen Spiel
wie Schach ergeben sich keine Widersprüche, solange man nicht unsinnige Regeln
einführt wie zum Beispiel: „Bei jedem Zug muss eine Figur des Gegners
geschlagen werden“ (schon beim Eröffnungszug wäre dies nicht einhaltbar, ohne
andere Regeln zu verletzen). Umfassendere Systeme weisen jedoch manchmal
logische Inkonsistenzen auf, selbst wenn sie auf den ersten Blick harmlos
aussehen.
Auch in der Mathematik tauchten bald Widersprüche auf: in der Mengenlehre. Mehr
schlecht als recht versuchte man, die Axiome zurechtzubiegen, auf dass die
Inkonsistenzen verschwänden. Hilbert fand es „unerträglich“, dass es in seinem
Fach, „diesem Muster von Sicherheit und Wahrheit“, zu solchen „Ungereimtheiten“
kam. Umso vehementer forderte er den Beweis der Widerspruchsfreiheit für die
Arithmetik, und noch hatte er Hoffnung. Ein letztes Mal jubilierte er an der
Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte am 8. September 1930 in seiner
Heimatstadt Königsberg: Bislang sei in der Mathematik noch nie ein unlösbares
Problem gefunden worden, und zwar seiner Meinung nach darum, weil es „unlösbare
Probleme überhaupt nicht gibt. Statt des törichten Ignorabimus heiße im
Gegenteil die Losung: Wir müssen wissen, wir werden wissen.“
Was Hilbert nicht wissen konnte: Am Tag davor, am 7. September 1930, war in
Königsberg an einer Mathematikertagung ein Mann aufgetreten, der just das
bewiesen hatte, was Hilbert so vehement bestritt: die Existenz unlösbarer
Probleme. Dieser Mann war Kurt Gödel.
Gödels Auftritt in Königsberg wurde „der bedeutendste Moment in der Geschichte
der Logik“ genannt, und doch war er unglaublich unspektakulär. Typischerweise
hatte Gödel, der große Schweiger, bis fast zum Schluss der Konferenz gewartet,
um dann einen einzigen Satz zu sagen, an dem er vermutlich tagelang gefeilt
hatte: „Man kann – unter Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit der klassischen
Mathematik – sogar Beispiele für Sätze angeben, die zwar inhaltlich richtig,
aber im formalen System der klassischen Mathematik unbeweisbar sind.“
Lag es an Gödels schüchternem Vortrag? Lag es an der Unerhörtheit seiner
Aussage, die das mathematische Weltbild der meisten Anwesenden infrage stellte?
Wir wissen es nicht. Jedenfalls war die Reaktion auf Gödels Satz: keine.
Niemand erwiderte. Die Diskussion ging weiter, als wäre nichts geschehen. Es
dauerte Monate, bis sich seine Entdeckung in der wissenschaftlichen Welt
verbreitete.
Was hatte Gödel gesagt? Es gibt mathematische Sätze, die sind richtig, aber
trotzdem kann man sie nicht beweisen. Richtig, aber nicht beweisbar! Und man
kann solche Sätze sogar konkret angeben. Gödel hielt es beispielsweise für
möglich, dass die sogenannte Goldbach’sche Vermutung dazugehört: Der deutsche
Mathematiker Christian Goldbach (1690–1764) hatte behauptet, dass jede gerade
Zahl größer als 2 sich als Summe zweier Primzahlen darstellen lasse (4 = 2 + 2,
6 = 3 + 3, 8 = 5 + 3 ...). Bis zum heutigen Tag hat man weder ein Gegenbeispiel
noch einen Beweis für diese Vermutung gefunden. (Was allerdings noch nicht
bedeutet, dass der Satz unbeweisbar ist.)
Gödels Aussage war aber keineswegs eine bloße Behauptung: Zu jenem Zeitpunkt
verfügte er bereits über einen strengen Beweis dafür. Präzise formuliert hat er
ihn in seinem berühmten Unvollständigkeitssatz, den er schließlich 1931 in Wien
veröffentlichte. Der Unvollständigkeitssatz besteht aus zwei Teilen, und beide
sind mathematische Provokationen höchster Güte.
Ungeheuerlichkeit Nummer eins: In jedem widerspruchsfreien formalen System, das
mit natürlichen Zahlen hantiert, gibt es unentscheidbare Sätze. In jedem
sinnvollen mathematischen System lassen sich Formeln konstituieren, von denen
bewiesenermaßen niemand sagen kann, ob sie richtig oder falsch sind. Gödel hat,
so paradox es klingt, Unbeweisbarkeit streng mathematisch bewiesen. Es ist, als
hätte er Hilbert in mathematischer Sprache entgegengeschmettert: „Doch, auch in
der Mathematik gibt es ein Ignorabimus!“
Ungeheuerlichkeit Nummer zwei: Die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems,
das mit natürlichen Zahlen hantiert, ist unbeweisbar. Niemals wird es möglich
sein, mit mathematischen Mitteln sicherzustellen, dass die Mathematik keine
Widersprüche enthält. Für David Hilbert hätte es kaum schlimmer kommen können:
Nicht nur gab es keinen Beweis der Widerspruchsfreiheit für die Arithmetik, es
konnte überhaupt keinen geben – nicht nur in der Arithmetik, sondern in der gesamten
Mathematik.
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